SEX PISTOLS
englische Punk-Band

Die SEX PISTOLS gelten als Gallionsfigur des Punk-Rocks, als Begründer des Images und der Haltung ("attitude") sowie in puncto Innovation als wegweisend für viele Stile der zukünftigen Rockmusik. Noch bevor sie die erste Single veröffentlicht hatten, waren sie die am meisten diskutierte Gruppe im europäischen Musikgeschäft.
Trotz ihres Namens war es wohl die Band mit dem wenigsten Sex-Appeal, die die Rock-Geschichte je erlebte; ihre Liebeslieder waren Anti-Liebeslieder, ihre Musik fügte sich keinen kommerziellen Mustern, sondern präsentierte sich in ihrer provokanten Weise als lebendiger, echter, rauher Rock'n'Roll. Obwohl sie nur wenige Alben veröffentlichten, waren ihre Titel energischer und mitreißender als die mancher anderen Punk-Band auf deren (ersten) Alben. Mit dem jungen Elvis Presley und den frühen Rolling Stones verglichen, hatten die SEX PISTOLS ebenfalls etwas Charismatisches an sich. "Sie erreichten, was James Dean auf der Straße nach Salinas hinkriegte: Tod und Ruhm, in einem perfekt ausgetimeten Moment miteinander verbündet" (Parsons, in: Spex 1986, 3).
Die Mitglieder der SEX PISTOLS stammten ausnahmslos aus desolaten Familienverhältnissen, waren arbeitslose Schulabgänger bzw. -abbrecher. Steve Jones (geb. am 3. September 1955 in London), Glen Matlock (geb. am 27. August 1957 in Greenford) und Paul Cook (geb. am 20. Juli 1956 in London) galten in der Band als die "Smiler" im Hintergrund, 'Sid Vicious' und 'Johnny Rotten' als schillernde Frontfiguren waren die "Smirker" (blöde Lächelnden). Der Kern der SEX PISTOLS gründete sich bereits 1973: Steve Jones (g, voc), Paul Cook (dr) und Glen Matlock (b) trafen sich regelmäßig in einer Boutique für Leder- und Gummifetischisten und sonstigen modischen Schnickschnack in der Londoner Kings Road, die Malcolm McLaren (geb. am 22. Januar 1947 in Stoke Newington) 1971 mit seiner Lebensgefährtin - und später als Modedesignerin zur Berühmtheit gelangten - Vivienne Westwood gründete. Bei der Eröffnung hieß McLarens Laden 'Let it Rock' und führte Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles, 1973 benannte McLaren ihn in 'Too fast to live, too young to die' um und verkaufte Rockerklamotten und Zubehör, 1974 schließlich - zu Gründungszeiten der SEX PISTOLS - hieß er 'Sex' und bot verschiedenste Sex-Artikel an, 1978 wurde er entgültig umgetauft in 'Seditionairies'. Was die Namen der Boutique schon über die Einstellung des Besitzers und Bandmanagers andeutet, macht dieser später mit dem Managment der Gruppe wahr. Die Meinung, die SEX PISTOLS seien einerseits eine Kopfgeburt McLarens gewesen, der bereits die NEW YORK DOLLS ausstaffierte und managte, sich andererseits als Phänomen dann von ihm nicht mehr kontrollierbar verselbständigten, ist nicht von der Hand zu weisen. Als ehemaliger Kunststudent und Anhänger der Pariser Studentenunruhen war McLaren ein romantischer Abenteurer, ein Möchtegern-Anarchist, dem es Spaß machte, Unruhe zu stiften und das Establishment zu schockieren. Mit den SEX PISTOLS gelang es ihm, sich auch selbst auszutoben und diese Seite seiner Person zu verwirklichen.
1975 betritt der arbeitslose 'Johnny Rotten' (bürgerlich: John Lydon; geb. am 31. Januar 1956 in London) die Boutique in einem T-Shirt mit der Aufschrift "Pink-Floyd", worüber er die Worte "Ich hasse" geschrieben hatte. Er löst Jones ab und wird der charismatische Sänger der Gruppe. Seinen Spitznamen erhielt er angeblich wegen seiner mangelnden Hygiene und grünen Zähne. Er konnte sowohl total in sich gekehrt und ruhig, als auch die totale Frontfigur in Action sein. Das Wesen, das er in der Öffentlichkeit zeigte, entsprach wohl nicht seiner wirklichen Persönlichkeit. Seine Performance war allerdings außerordentlich fesselnd und elektrisierend. Nicht das, was er sang, sondern wie er es sang, machte ihn zu einem der bedeutendsten Sänger der Rockgeschichte. Trotz seines Tonumfangs von weniger als einer Oktave, war sein Gesang von einer größeren Eindringlichkeit als der mancher technisch versierterer Sänger. Niemand rollte das R so wie er, niemand reizte und stichelte das Publikum in dieser Weise, niemand rotzte mit solcher Verachtung Textzeilen heraus, sein diabolisches Gelächter war wahrlich furchteinflößend, seine höhnisch halbgesprochenen Äußerungen im tiefstem Cockney-Akzent wurden noch unterstrichen von seiner bleichgesichtigen Reptiliengestalt, seinen stechenden Glubschaugen und scheinbar unkontrollierten Bewegungen auf der Bühne. Rotten selbst sagt später: "Ich bin niemals als politischer Prediger aufgetreten; ich habe höchstens versucht auszudrücken, was 'common sense' ist." (Grave/Schmidt-Joos, 'Rocklexikon', 1991). Rotten versicherte, daß die Gruppe niemals eine politische Wirkung bewußt intendiert habe; Drahtzieher sei in erster Linie McLaren gewegen, der Image und Aktionen der SEX PISTOLS inszenierte. Von sich selbst behauptet Rotten, er sei stärker von seinen irischen Wurzeln geprägt, als von einer wie auch immer gearteten Punk-Philosophie.
Die ersten Auftritte in der Club-Szene endeten oft mit Rausschmissen. Im Februar 1976 traten die SEX PISTOLS als Vorgruppe von EDDIE & THE HOT RODS im 'Marquee' auf, im April bei Joe Strummers 101'ERS in den 'Nashville Rooms'. Im September sind sie Headliner des "100 Club's Punk Festival", wo auch ihr späterer Bassist Sid Vicious als Drummer beim ersten Gig von SIOUXSIE AND THE BANSHEES mitwirkte, nach zweitägiger Bekanntschaft mit dem Schlagzeug. Am 8. Oktober 1976 schließen die SEX PISTOLS ihren ersten Vertrag für 40.000 Pfund Vorauskasse bei 'EMI' ab, die erste Single "Anarchy In The U.K." erscheint am Freitag, dem 26. November. Die Folgen eines Live-Auftritts der SEX PISTOLS und einigen ihrer Fans (u.a. 'Siouxsie Sue' von SIOUXSIE AND THE BANSHEES und Billy Idol, später Sänger bei GENERATION-X, dann Solokarriere) in der Familiensendung "Today Show" der BBC am 1.12.1976 gipfelten in einem landesweiten Skandal und einer wahren Hysterie gegen die SEX PISTOLS. Auf die Frage des Moderators Bill Grundy an einen weiblichen Fan der Gruppe "We'll meet afterwards, shall we?", bombardieren die anwesenden Punks den Moderator mit Bemerkungen wie "You dirty sod", "You dirty bastard", "You dirty fucker", "What a fucking rotter" u.ä. Das Interview fand zur heiligen Tea-Time statt, und daher ist es nicht verwunderlich, daß es beim Sender Anrufe betroffener und verärgerter Bürger hagelte. Die 'BBC' feuerte den Moderator, EMI die SEX PISTOLS, die nun zum "Public Enemy No 1" avancierten. McLaren gelang es, noch eine Abfindung von 50.000 Pfund herauszuschlagen. Das Ereignis führte zum ersten Personalwechsel in der Gruppe: Matlock stieg aus und gründete seine eigene Band, THE RICH KIDS. Er wurde durch Rottens Schulfreund Sid Vicious ersetzt, der sich schnell einige Griffe auf dem Baß beibrachte. Sid Vicious (bürgerlich: John Simon Ritchie; geb. am 10. Mai 1957 in London; gest. am 2. Februar 1979 in New York) gilt neben Rotten als die schillerndste und auch tragischste Figur der SEX PISTOLS. Seine Mutter Anne war drogensüchtig und schleppte ihn als Kind auf allen Hippie-Treffs Europas herum. Daher stammt wohl sein Haß auf alles, was lange Haare hat. Er lebte wohl am konsequentesten selbst genau das, was die Band nach außen repräsentierte. Sein destruktiver Lebenswandel und der Mangel jeglichen Halts in seinem Leben führten zu Sids spektakulärer kurzen Karriere und schließlich seinem Tod.
Sid war es, der zuerst seins und dann Johnnys Haare in die neue Punk-Form schnitt, er war es auch, der als erster die Schuhe mit Sicherheitsnadeln zusammenflickte, und den Look der neuen Häßlichkeit kreierte, der später so modern und zum Markenzeichen des Punkers wurde. Seine Freundin Nancy Spungen, ein amerikanisches Punk-Groupie, war ebenfalls eine labile Persönlichkeit und heroinsüchtig. Die beiden galten als das Punk-Liebespaar der Rockgeschichte. Alex Cox' Film "Sid And Nancy" (1986) erzählt die Love-Story der beiden, die schließlich Opfer ihres Selbstzerstörungstriebs wurden.
Im Januar 1977 traten die SEX PISTOLS in den Niederlanden auf. Am 9. März 1977 schlossen A&M mit ihnen einen Vertrag über 50.000 Pfund ab, "God Save The Queen" geht in Produktion. Vor der Veröffentlichung der Single lösten A&M nach nur fünf Tagen den Vertrag wieder gegen eine Abfindung von 75.000 Pfund. Etablierte A&M-Künstler, wie Peter Frampton und Rick Wakeman drohten der Firma mit Vertragsauflösung, wenn sie die SEX PISTOLS weiterhin als Vertragspartner duldeten. Getreu seinem unkonventionellen Image nahm 'Virgin' die SEX PISTOLS unter Vertrag (21. Mai). Die Single "God Save The Queen", von der A&M die wenigen gepreßten Exemplare vernichten ließ, kommt am 27. Mai heraus, auf der B-Seite "No Feelings". (Für eines der wenigen noch erhaltenen gepreßten A&M Exemplare der Single werden in Sammlerkreisen mittlerweile etwa 800 DM gezahlt.) Binnen kurzer Zeit wuden eine halbe Million Singles umgesetzt. Mitten in den Feierlichkeiten zum 25. Krönungsjubiläum der Queen stieg der Titel auf Platz 1 der 'NME'-Charts in Großbritannien. In den Radiostationen wurde der Titel boykottiert, in den Hitlisten der Verkaufscharts war er nicht aufgeführt, sondern Platz zwei blieb schlicht unbesetzt. Musikboxen in Gaststätten wurden - auf Wunsch der Brauereien - nicht mit der Single bestückt, Läden und Fachhandel weigerten sich, sie in ihren Bestand aufzunehmen. Dafür, daß der Titel öffentlich nicht gehört werden konnte, fanden er und die SEX PISTOLS in der Presse ein erstaunliches Echo. In der ganzen Geschichte des Rock'n'Roll hat es keinen derartigen Erfolg gegeben. ""Anarchy In The UK" und "God Save The Queen" sind die besten Rock'n'Roll Singles, die jemals gemacht wurden" ('Record Mirror'). Die Single "Anarchy In The UK" wurde nicht mehr ausgeliefert, weil sich die Arbeiterinnen eines Preßwerkes weigerten, sie zu verpacken. Die landesweite Hysterie nahm grobe Formen an: Im Juni wurde der Cover-Designer von "God Save The Queen", Jamie Raid, tätlich angegriffen (die signierten Vorlagen für dieses berühmte Cover mit der sicherheitsnadeltragenden Queen werden mittlerweile mit 300 Pfund gehandelt), Rotten wurde von Bürgen das Gesicht und der Arm zerschnitten. Im Juli kam es zu Straßenschlachten und polizeilichen Festnahmen, der Virgin-Werbedirektor wurde nachts auf einer Straße in London bewußtlos aufgefunden, Passanten hatten ihm die Nase eingeschlagen und das Bein gebrochen. Hier fand ein einmaliges Ereignis im Bereich von Rockmusik und Musikgeschäft statt: Eine von allen Radiostationen boykottierte und aus den meisten Kaufhäusern und Plattenläden verbannte Platte wird zur populärsten im ganzen Land.
Als die dritte Single, "Pretty Vacant", am 2. Juli 1977 erschien, verzeichnet England eine Million Arbeitslose. "Holidays In The Sun" (15. Oktober) ist die vierte und letzte Single der SEX PISTOLS, das erste Album "Never Mind The Bollocks - Here's The Sex Pistols" wurde am 28. Oktober veröffentlicht, in drei Tagen 100.000mal verkauft und führte 2 Wochen die englischen Charts. Dem Debut-Album wurde in vielen UK-Radiostationen ein Airplay verweigert, nicht weil es eine Anti-Britische Haltung (auf den ersten Blick) beinhaltet ("God Save The Queen" widerspricht dem), sondern wegen der kritisch-visionären und dabei sehr patriotischen Haltung. Die LP kann als brilliantes Stück britischer Folk-Art angesehen werden. "Anarchy In The U.K." und "God Save The Queen" können wohl als die berühmtesten und wichtigsten Titel nicht nur der SEX PISTOLS, sondern des Punk-Rock überhaupt angesehen werden. Sie stellen quasi seine Hymnen dar. Beiden Songs ist eine kritische Beschreibung des Status Quo in England eigen, die in einer utopischen Hoffnung auf die Zerstörung und Beseitigung dieser zerstörten Gesellschaft gipfelt. Der Begriff "Anarchy" wird im Sinne von Freiheit und Selbstverwirklichung verwendet, Anarchie in einem positiven Sinne eben. Mittels ungeheurer Provokation der geheiligten Institutionen Königin, Nationalhymne und Vaterland werden alle Inhalte, für die diese Institutionen stehen, auf den ersten Blick negiert, bei näherem Hinhören allerdings lassen die Textzeilen "God save the Queen, we mean it man, we love our Queen" eben genau diese Möglichkeit des Wandels zum Besseren offen und weisen gleichzeitig solche Äußerungen zurück, die behaupten, die SEX PISTOLS verunglimpfen die Königin und ihr Vaterland. Tatsächlich aber lautet die Botschaft: Möge Gott die Königin erretten, die eine solch kaputte Gesellschaft repräsentieren muß. Rotten äußerte sich bezüglich der Boykotte: "Gebt uns die Chance zu spielen, damit die Leute allein entscheiden können, ob wir ein Haufen Scheiße sind. Nehmt ihnen nicht das Recht, uns zu hören. Und wenn dann das Klasse-Publikum in unserem wundervollen Land unsere Musik nicht mag, dann kann es sich ins Knie ficken." (zit. nach Mike Flood Page, in: Sounds 9, 1977).
Da die Band in England nicht mehr auftreten darf, tourte sie 1977 durch die Niederlande. Auftritte in England fanden in einer "Guerilla Tour" nur noch unter Pseudonymen statt, bevorzugter Name war "Spots" (SEX PISTOLS on tour secretly). Am 25. 12. traten sie zum letztenmal in ihrem Heimatland auf. Am 3. Januar flogen die SEX PISTOLS in die USA, wo am 5. Januar ihr erstes US-Concert in Atlanta stattfand. Es folgten noch weitere Auftritte in Memphis, San Antonio, Baton Rouge, Dallas, Tulsa, schließlich ihr letzter in San Francisco. McLaren war durch sein Management der NEW YORK DOLLS in den USA schon bekannt. Die Gruppe aber wurde in den Staaten, wie auch in Europa, eher als Kuriosum angesehen. Am 14.1.1978 fand das letzte Konzert der SEX PISTOLS im 'Winterland Ballroom' in San Francisco vor 5000 Zuschauern statt. Sie selbst nannten es ihr schlechtestes Konzert. Ende 1978 flohen die beiden Junkies Sid Vicious und Nancy Spungen vor der Londoner Polizei nach New York. Sids Versuche, als Solokünstler Geld zu verdienen, scheiterten. Ein kleiner Erfolg gelang ihm mit einer Cover-Version von Frank Sinatras "My Way", auf der B-Seite von "No One Is Innocent", gesungen von dem aus England geflohenen Bankräuber Ronald Biggs. Am 12. Oktober 1978 fanden Polizisten den aufgeschlitzten Körper der zwanzigjährigen Nancy unter dem Waschbecken des Zimmers Nummer 100 des New Yorker Künstlerhotels 'Chelsea'. Vicious wurde auf der Stelle festgenommen. McLaren flog sofort in die USA und bekam Sid gegen eine Kaution von 50.000 Dollar aus dem New Yorker Riker's Island Gefängnis frei. Keiner seiner Freunde glaubte, daß Sid der Täter war. McLaren vermarktete die Story auf unglaublich geschmacklose Art und Weise: Er verkaufte T-Shirts mit der Aufschrift "I'm alive - she's dead - I'm yours", angeblich um die Verteidigung seines Schützlings zu finanzieren. Sid war völlig aus dem Tritt, eine Entziehungskur fruchtete nicht. Er driftete immer tiefer in die Drogensucht ab, ein Selbstmordversuch scheiterte. Der Tod von Nancy, die selbst schon mehrmals versucht hatte, sich mit Schlaftabletten umzubringen, wurde nie aufgeklärt. Noch bevor es zu einer Verhandlung kam, griff Sid am 2. Februar 1979 erneut zur Spritze, seiner letzten.
Nach dem Tod von Vicious versucht die Band weiterzumachen. Sie erstellen noch mit Julien Temple den Film "The Great Rock'n'Roll Swindle". Johnny Rotten steigt dann aber doch aus. Später sagte er, McLaren habe in seiner Gier nach Ruhm und Geld alles verraten, was die SEX PISTOLS je bedeutet hätten. Rotten gründete später seine eigene Band, PUBLIC IMAGE LIMITED. Cook und Jones suchten einen neuen Bassisten. McLaren bemühte sich derweil, Lydon durch Ronald Briggs ersetzen. Er verheizte die kaputte Band hemmungslos. Ihr Rabauken-Image pflegte er durch manipulierte Aktionen. Auf einer Tournee soll er in Zorn geraten sein, als die Band brav im Hotel-Zimmer Reggae-Platten hörte, anstatt ihrem Image als Trouble-Maker und Mobiliar-Zertrümmerer nachzukommen. Greil Marcus' Versuch über die SEX PISTOLS, klingt plausibel: Die Öffentlichkeit warf ihnen Ziel- und Inhaltslosigkeit vor, einen Nihilismus, den Marcus nicht erkennt. Davon könne bei den SEX PISTOLS keine Rede sein. Sie praktizierten eher die totale Verweigerung. Da ein solches Verhalten aber die Existenz von Menschen in sozialen und gesellschaftspolitischen Beziehungen voraussetzt, ist die Verweigerung eben dieser gesellschaftlichen Normen eine Äußerung, die - wenn auch nicht bewußt reflektiert - eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen bedeutet. Nach Marcus haben die SEX PISTOLS mehr Bands inspiriert, als sonstwer, doch als kommerzielles Potential und als Skandal existierten sie nur in dem kurzen Zeitraum der Veröffentlichung der 1. Single am 26.11.1976 bis zur offiziellen Erklärung ihrer Auflösung am 14.1.1978.
Joe Stummer (THE CLASH) sagte später über den Einfluß der SEX PISTOLS auf ihn: "Gestern hielt ich mich für eine Niete, dann sah ich die SEX PISTOLS und wurde zum König". Durch die Musik wurde hier etwas realisiert, was man kaum für möglich gehalten hätte: Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und sich durch den ständigen Druck derselben als Versager abgestempelt sehen, entdecken ihre Power und werden auf ihre Art und Weise kreativ und sogar erfolgreich. Tony Parsons läßt ebenfalls nichts auf die SEX PISTOLS kommen: "Egal, was für eine Ansammlung von Trotteln sie von heute aus betrachtet sind (...), sie haben an der Musik eine Herztransplantation vorgenommen." (Parsons, in: SPEX, 1986, 3)
Das Vermächtnis der umstrittensten und erfolgreichsten Punkband, die Doppel-LP "The Great Rock'n'Roll Swindle" ist der Soundtrack des gleichnamigen Films, der das Leben und die Karriere der SEX PISTOLS zeigt. Er wurde nach dem Auseinanderfall der Gruppe von McLaren fertiggestellt und enthält neben den Punk-Hymnen "Anarchy In The U.K." und "God Save The Queen" auch einige albern arrangierte Versionen dieser SEX PISTOLS-Titel ("God Save The Queen" als Orchesterfassung, eine französische Version von "Anarchy In The U.K."). Sollte McLaren versucht haben, die Gruppe hier als von ihm von Anfang an geplanter Schwindel zu entlarven, so scheitert dies an einigen "echten" SEX PISTOLS-Stücken auf dem Album, u. a. den Coverversionen der Rock'n'Roll Klassiker "Rock Around The Clock", "C'mon Everybody", "Johnny B. Goode" und "Roadrunner". Gerade in den beiden letztgenannten Titeln wird das Original lediglich musikalisch zitiert, der Text bleibt aus, statt dessen hört man Rotten und Consorten im Studio rumalbern: "Stop, stop, it's fuckin awful", "I don't know the verses, I don't know it", "Don't you know any other fuckin' song that we can do?" Einerseits verlacht, verspottet und als musikalische Dilettanten beschimpft, waren sie die Wegbereiter des Erfolges von Gruppen wie THE DAMNED, THE CLASH, THE STRANGLERS, SHAM 69, THE BUZZCOCKS und vielen anderen.
Während John Lydon (alias 'Johnny Rotten') mit PUBLIC IMAGE LIMITED (PIL) vergleichsweise erfolgreich den Sprung in die 80er schaffte, mühten sich Cook und Jones mit ihren Band-Projekten (THE PROFESSIONALS, CHIEFS OF RELIEF) vergebens, im Rockbiz Fuß zu fassen.
Im vergangenen Jahr verdichteten sich Gerüchte, nach denen der Rockwelt ein SEX PISTOLS-Revival ins Haus stehen sollte. Und tatsächlich gingen die SEX PISTOLS 18 Jahre nach ihrem letzten Konzert 1978 wieder auf Tour. Das Quartett formierte sich aus Johnny Rotten (voc), Steve Jones (g), Paul Cook (dr) und Glen Matlock aus dem allerersten Line-Up, der den Platz des verstorbenen Sid Vicious am Baß wieder einnahm. Passend zum Revival meldete sich Glen Matlock auch mit einem Solo-Album zu Wort. Im Mai 1996 erschien "Who's He Think He Is When He's At Home". Jones Karriere verlief nach dem Ende der PISTOLS ebenfalls alles andere als zufriedenstellend. Die PROFESSIONALS, eine Zusammenarbeit mit PISTOLS-Kompane Paul Cook, lösten sich 1982 bereits wieder auf. Cook fristete fortan ein Dasein in der Arbeitslosigkeit, Jones arbeitete gelegentlich für den Punk-Altmeister Johnny Thunders, für Joan Jett, SIOUXSIE AND THE BANSHEES und GENERATION X. Aber Ende der 80er war mit Punk in England nun wirklich nichts mehr zu wollen. Also verlagerte Jones sein Tätigkeitsfeld in die Staaten, wo er u. a. mit Iggy Pop und Alex Cox arbeitete. In Los Angeles fand er in Duff McKagan von GUNS'N'ROSES einen Verbündeten. Zu gemeinsamen Sessions fanden sich noch John Taylor (Ex-DURAN DURAN) und Matt Sorum (GUNS'N'ROSES) ein, und in der örtlichen Club-Szene brachte es das Projekt mit Coverversionen von Iggy Pop über THE DAMNED zu ROXY MUSIC zu einem gewissen Ruf. Maverick nahm sie unter Vertrag und brachte eine CD dieser NEUROTIC OUTSIDERS auf den Markt ("Jerk" (1996), WEA). Auch eine Solo-CD von Jones wurde auf den Markt geworfen. "Mercy" stammt eigentlich aus dem Jahre 1987, wurde aber nun im Sog der PISTOLS-Reunion wiederveröffentlicht. In diesem Sinne bestens vorbereitet, pflegte die englische Vorzeige-Kult-Punkband ihren eigenen Kult und ging wiedervereinigt auf Tour. In Deutschland waren sie in München (22. 6.), Hamburg (29.6.), Berlin (6.7.) und Ochtrup bei Münster (13. 7.) zu erleben. Das Echo in der Öffentlichkeit faßt die Süddeutsche Zeitung passend zusammen: "Eine Legende macht sich lächerlich." (24. 6.96). In seiner Autobiographie "No Blacks, No Dogs, No Irish" schrieb Rotten schon 1994 über Punk: "Es hat heute doch keine Berechtigung mehr, es hat einfach keine Sinn mehr." Und weiter orakelt er: "Auch wenn es niemand wahrhaben will: Punk ist seit 18 Jahren tot. Sag das auch diesen deutschen Pennern, die mit ihren häßlichen Irokesenköpfen wie alte Hippies in den Fußgängerzonen herumhängen und fragen: 'Haste mal 'ne Mark?'"
So ist es wohl eine Frage des Standpunkts, ob man Äußerungen Rottens auf der Tour, wie "wollt ihr allen Ernstes noch mehr von diesem Scheißdreck hören" oder ähnliche Statements als echt punkig oder schlicht als Verhohnepipelung des Publikums auffassen will. Tatsache ist, die Pistols tauchten aus der Versenkung auf, kassierten ihre Gage, killten ihre Legende und pfiffen auf ihre Fans.
Nichtsdestotrotz stiegen die wegen chronischen Geldmangels wiedervereinigten Rabauken unter dem Regiment von Ober-Pöbler Johnny Rotton mit einer Live-Version ihres Songs "Pretty vacant" sogar wieder in die Charts ein. Der Great Rock'n'Roll Swindle 1996, der wohl schlechteste Headliner des Jahres, wurde auf dem Album "Filthy Lucre" (1996) festgehalten.

 

Diskografie: (nur die offiziellen)

"Never Mind The Bollocks - Here's The Sex Pistols" (1977), Virgin
"The Great Rock'n'Roll Swindle" (1979), Virgin
"Some Product - Carri On Sex Pistols" (1979), Virgin
"Filthy Lucre Live" (1996), Virgin

Sampler:
"Flogging A Dead Horse" (1979), Virgin
"Kiss This - Sex Pistols Best Remastered" (1992), Virgin


Solo-LP von Sid Vicious:
"Sid Sings" (1979), Virgin


THE PROFESSIONALS: (m. Steve Jones u. Paul Cool)
"I Didn't See It Coming" (1981), Virgin

Solo-LP's von Steve Jones:
"Mercy" (1987), MCA
"Fire And Gasoline" (1989), MCA

Solo-LP's von Glen Matlock:
"Who's He Think He Is When He's At Home" (1996)


CHIEFS OF RELIEF: (m. Paul Cook)
"Chiefs Of Relief" (1988), Polydor


Best Of/Hitlist:
"Anarchy in the UK" (1976)
"God save the Queen" (1977)
"Pretty vacant" (1977)
"Holidays in the sun" (1977)


Literatur:
Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk - kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992. S. 22-156.

 

(Pia Ambrosch)