SEX PISTOLS
englische Punk-Band Die SEX PISTOLS gelten als
Gallionsfigur des Punk-Rocks, als Begründer des Images
und der Haltung ("attitude") sowie in puncto
Innovation als wegweisend für viele Stile der
zukünftigen Rockmusik. Noch bevor sie die erste Single
veröffentlicht hatten, waren sie die am meisten
diskutierte Gruppe im europäischen Musikgeschäft.
Trotz ihres Namens war es wohl die Band mit dem wenigsten
Sex-Appeal, die die Rock-Geschichte je erlebte; ihre
Liebeslieder waren Anti-Liebeslieder, ihre Musik fügte
sich keinen kommerziellen Mustern, sondern präsentierte
sich in ihrer provokanten Weise als lebendiger, echter,
rauher Rock'n'Roll. Obwohl sie nur wenige Alben
veröffentlichten, waren ihre Titel energischer und
mitreißender als die mancher anderen Punk-Band auf deren
(ersten) Alben. Mit dem jungen Elvis Presley und den
frühen Rolling Stones verglichen, hatten die SEX PISTOLS
ebenfalls etwas Charismatisches an sich. "Sie
erreichten, was James Dean auf der Straße nach Salinas
hinkriegte: Tod und Ruhm, in einem perfekt ausgetimeten
Moment miteinander verbündet" (Parsons, in: Spex
1986, 3).
Die Mitglieder der SEX PISTOLS stammten ausnahmslos aus
desolaten Familienverhältnissen, waren arbeitslose
Schulabgänger bzw. -abbrecher. Steve Jones (geb. am 3.
September 1955 in London), Glen Matlock (geb. am 27.
August 1957 in Greenford) und Paul Cook (geb. am 20. Juli
1956 in London) galten in der Band als die
"Smiler" im Hintergrund, 'Sid Vicious' und
'Johnny Rotten' als schillernde Frontfiguren waren die
"Smirker" (blöde Lächelnden). Der Kern der
SEX PISTOLS gründete sich bereits 1973: Steve Jones (g,
voc), Paul Cook (dr) und Glen Matlock (b) trafen sich
regelmäßig in einer Boutique für Leder- und
Gummifetischisten und sonstigen modischen Schnickschnack
in der Londoner Kings Road, die Malcolm McLaren (geb. am
22. Januar 1947 in Stoke Newington) 1971 mit seiner
Lebensgefährtin - und später als Modedesignerin zur
Berühmtheit gelangten - Vivienne Westwood gründete. Bei
der Eröffnung hieß McLarens Laden 'Let it Rock' und
führte Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles, 1973
benannte McLaren ihn in 'Too fast to live, too young to
die' um und verkaufte Rockerklamotten und Zubehör, 1974
schließlich - zu Gründungszeiten der SEX PISTOLS -
hieß er 'Sex' und bot verschiedenste Sex-Artikel an,
1978 wurde er entgültig umgetauft in 'Seditionairies'.
Was die Namen der Boutique schon über die Einstellung
des Besitzers und Bandmanagers andeutet, macht dieser
später mit dem Managment der Gruppe wahr. Die Meinung,
die SEX PISTOLS seien einerseits eine Kopfgeburt McLarens
gewesen, der bereits die NEW YORK DOLLS ausstaffierte und
managte, sich andererseits als Phänomen dann von ihm
nicht mehr kontrollierbar verselbständigten, ist nicht
von der Hand zu weisen. Als ehemaliger Kunststudent und
Anhänger der Pariser Studentenunruhen war McLaren ein
romantischer Abenteurer, ein Möchtegern-Anarchist, dem
es Spaß machte, Unruhe zu stiften und das Establishment
zu schockieren. Mit den SEX PISTOLS gelang es ihm, sich
auch selbst auszutoben und diese Seite seiner Person zu
verwirklichen.
1975 betritt der arbeitslose 'Johnny Rotten'
(bürgerlich: John Lydon; geb. am 31. Januar 1956 in
London) die Boutique in einem T-Shirt mit der Aufschrift
"Pink-Floyd", worüber er die Worte "Ich
hasse" geschrieben hatte. Er löst Jones ab und wird
der charismatische Sänger der Gruppe. Seinen Spitznamen
erhielt er angeblich wegen seiner mangelnden Hygiene und
grünen Zähne. Er konnte sowohl total in sich gekehrt
und ruhig, als auch die totale Frontfigur in Action sein.
Das Wesen, das er in der Öffentlichkeit zeigte,
entsprach wohl nicht seiner wirklichen Persönlichkeit.
Seine Performance war allerdings außerordentlich
fesselnd und elektrisierend. Nicht das, was er sang,
sondern wie er es sang, machte ihn zu einem der
bedeutendsten Sänger der Rockgeschichte. Trotz seines
Tonumfangs von weniger als einer Oktave, war sein Gesang
von einer größeren Eindringlichkeit als der mancher
technisch versierterer Sänger. Niemand rollte das R so
wie er, niemand reizte und stichelte das Publikum in
dieser Weise, niemand rotzte mit solcher Verachtung
Textzeilen heraus, sein diabolisches Gelächter war
wahrlich furchteinflößend, seine höhnisch
halbgesprochenen Äußerungen im tiefstem Cockney-Akzent
wurden noch unterstrichen von seiner bleichgesichtigen
Reptiliengestalt, seinen stechenden Glubschaugen und
scheinbar unkontrollierten Bewegungen auf der Bühne.
Rotten selbst sagt später: "Ich bin niemals als
politischer Prediger aufgetreten; ich habe höchstens
versucht auszudrücken, was 'common sense' ist."
(Grave/Schmidt-Joos, 'Rocklexikon', 1991). Rotten
versicherte, daß die Gruppe niemals eine politische
Wirkung bewußt intendiert habe; Drahtzieher sei in
erster Linie McLaren gewegen, der Image und Aktionen der
SEX PISTOLS inszenierte. Von sich selbst behauptet
Rotten, er sei stärker von seinen irischen Wurzeln
geprägt, als von einer wie auch immer gearteten
Punk-Philosophie.
Die ersten Auftritte in der Club-Szene endeten oft mit
Rausschmissen. Im Februar 1976 traten die SEX PISTOLS als
Vorgruppe von EDDIE & THE HOT RODS im 'Marquee' auf,
im April bei Joe Strummers 101'ERS in den 'Nashville
Rooms'. Im September sind sie Headliner des "100
Club's Punk Festival", wo auch ihr späterer Bassist
Sid Vicious als Drummer beim ersten Gig von SIOUXSIE AND
THE BANSHEES mitwirkte, nach zweitägiger Bekanntschaft
mit dem Schlagzeug. Am 8. Oktober 1976 schließen die SEX
PISTOLS ihren ersten Vertrag für 40.000 Pfund
Vorauskasse bei 'EMI' ab, die erste Single "Anarchy
In The U.K." erscheint am Freitag, dem 26. November.
Die Folgen eines Live-Auftritts der SEX PISTOLS und
einigen ihrer Fans (u.a. 'Siouxsie Sue' von SIOUXSIE AND
THE BANSHEES und Billy Idol, später Sänger bei
GENERATION-X, dann Solokarriere) in der Familiensendung
"Today Show" der BBC am 1.12.1976 gipfelten in
einem landesweiten Skandal und einer wahren Hysterie
gegen die SEX PISTOLS. Auf die Frage des Moderators Bill
Grundy an einen weiblichen Fan der Gruppe "We'll
meet afterwards, shall we?", bombardieren die
anwesenden Punks den Moderator mit Bemerkungen wie
"You dirty sod", "You dirty bastard",
"You dirty fucker", "What a fucking
rotter" u.ä. Das Interview fand zur heiligen
Tea-Time statt, und daher ist es nicht verwunderlich,
daß es beim Sender Anrufe betroffener und verärgerter
Bürger hagelte. Die 'BBC' feuerte den Moderator, EMI die
SEX PISTOLS, die nun zum "Public Enemy No 1"
avancierten. McLaren gelang es, noch eine Abfindung von
50.000 Pfund herauszuschlagen. Das Ereignis führte zum
ersten Personalwechsel in der Gruppe: Matlock stieg aus
und gründete seine eigene Band, THE RICH KIDS. Er wurde
durch Rottens Schulfreund Sid Vicious ersetzt, der sich
schnell einige Griffe auf dem Baß beibrachte. Sid
Vicious (bürgerlich: John Simon Ritchie; geb. am 10. Mai
1957 in London; gest. am 2. Februar 1979 in New York)
gilt neben Rotten als die schillerndste und auch
tragischste Figur der SEX PISTOLS. Seine Mutter Anne war
drogensüchtig und schleppte ihn als Kind auf allen
Hippie-Treffs Europas herum. Daher stammt wohl sein Haß
auf alles, was lange Haare hat. Er lebte wohl am
konsequentesten selbst genau das, was die Band nach
außen repräsentierte. Sein destruktiver Lebenswandel
und der Mangel jeglichen Halts in seinem Leben führten
zu Sids spektakulärer kurzen Karriere und schließlich
seinem Tod.
Sid war es, der zuerst seins und dann Johnnys Haare in
die neue Punk-Form schnitt, er war es auch, der als
erster die Schuhe mit Sicherheitsnadeln zusammenflickte,
und den Look der neuen Häßlichkeit kreierte, der
später so modern und zum Markenzeichen des Punkers
wurde. Seine Freundin Nancy Spungen, ein amerikanisches
Punk-Groupie, war ebenfalls eine labile Persönlichkeit
und heroinsüchtig. Die beiden galten als das
Punk-Liebespaar der Rockgeschichte. Alex Cox' Film
"Sid And Nancy" (1986) erzählt die Love-Story
der beiden, die schließlich Opfer ihres
Selbstzerstörungstriebs wurden.
Im Januar 1977 traten die SEX PISTOLS in den Niederlanden
auf. Am 9. März 1977 schlossen A&M mit ihnen einen
Vertrag über 50.000 Pfund ab, "God Save The
Queen" geht in Produktion. Vor der Veröffentlichung
der Single lösten A&M nach nur fünf Tagen den
Vertrag wieder gegen eine Abfindung von 75.000 Pfund.
Etablierte A&M-Künstler, wie Peter Frampton und Rick
Wakeman drohten der Firma mit Vertragsauflösung, wenn
sie die SEX PISTOLS weiterhin als Vertragspartner
duldeten. Getreu seinem unkonventionellen Image nahm
'Virgin' die SEX PISTOLS unter Vertrag (21. Mai). Die
Single "God Save The Queen", von der A&M
die wenigen gepreßten Exemplare vernichten ließ, kommt
am 27. Mai heraus, auf der B-Seite "No
Feelings". (Für eines der wenigen noch erhaltenen
gepreßten A&M Exemplare der Single werden in
Sammlerkreisen mittlerweile etwa 800 DM gezahlt.) Binnen
kurzer Zeit wuden eine halbe Million Singles umgesetzt.
Mitten in den Feierlichkeiten zum 25. Krönungsjubiläum
der Queen stieg der Titel auf Platz 1 der 'NME'-Charts in
Großbritannien. In den Radiostationen wurde der Titel
boykottiert, in den Hitlisten der Verkaufscharts war er
nicht aufgeführt, sondern Platz zwei blieb schlicht
unbesetzt. Musikboxen in Gaststätten wurden - auf Wunsch
der Brauereien - nicht mit der Single bestückt, Läden
und Fachhandel weigerten sich, sie in ihren Bestand
aufzunehmen. Dafür, daß der Titel öffentlich nicht
gehört werden konnte, fanden er und die SEX PISTOLS in
der Presse ein erstaunliches Echo. In der ganzen
Geschichte des Rock'n'Roll hat es keinen derartigen
Erfolg gegeben. ""Anarchy In The UK" und
"God Save The Queen" sind die besten
Rock'n'Roll Singles, die jemals gemacht wurden"
('Record Mirror'). Die Single "Anarchy In The
UK" wurde nicht mehr ausgeliefert, weil sich die
Arbeiterinnen eines Preßwerkes weigerten, sie zu
verpacken. Die landesweite Hysterie nahm grobe Formen an:
Im Juni wurde der Cover-Designer von "God Save The
Queen", Jamie Raid, tätlich angegriffen (die
signierten Vorlagen für dieses berühmte Cover mit der
sicherheitsnadeltragenden Queen werden mittlerweile mit
300 Pfund gehandelt), Rotten wurde von Bürgen das
Gesicht und der Arm zerschnitten. Im Juli kam es zu
Straßenschlachten und polizeilichen Festnahmen, der
Virgin-Werbedirektor wurde nachts auf einer Straße in
London bewußtlos aufgefunden, Passanten hatten ihm die
Nase eingeschlagen und das Bein gebrochen. Hier fand ein
einmaliges Ereignis im Bereich von Rockmusik und
Musikgeschäft statt: Eine von allen Radiostationen
boykottierte und aus den meisten Kaufhäusern und
Plattenläden verbannte Platte wird zur populärsten im
ganzen Land.
Als die dritte Single, "Pretty Vacant", am 2.
Juli 1977 erschien, verzeichnet England eine Million
Arbeitslose. "Holidays In The Sun" (15.
Oktober) ist die vierte und letzte Single der SEX
PISTOLS, das erste Album "Never Mind The Bollocks -
Here's The Sex Pistols" wurde am 28. Oktober
veröffentlicht, in drei Tagen 100.000mal verkauft und
führte 2 Wochen die englischen Charts. Dem Debut-Album
wurde in vielen UK-Radiostationen ein Airplay verweigert,
nicht weil es eine Anti-Britische Haltung (auf den ersten
Blick) beinhaltet ("God Save The Queen"
widerspricht dem), sondern wegen der kritisch-visionären
und dabei sehr patriotischen Haltung. Die LP kann als
brilliantes Stück britischer Folk-Art angesehen werden.
"Anarchy In The U.K." und "God Save The
Queen" können wohl als die berühmtesten und
wichtigsten Titel nicht nur der SEX PISTOLS, sondern des
Punk-Rock überhaupt angesehen werden. Sie stellen quasi
seine Hymnen dar. Beiden Songs ist eine kritische
Beschreibung des Status Quo in England eigen, die in
einer utopischen Hoffnung auf die Zerstörung und
Beseitigung dieser zerstörten Gesellschaft gipfelt. Der
Begriff "Anarchy" wird im Sinne von Freiheit
und Selbstverwirklichung verwendet, Anarchie in einem
positiven Sinne eben. Mittels ungeheurer Provokation der
geheiligten Institutionen Königin, Nationalhymne und
Vaterland werden alle Inhalte, für die diese
Institutionen stehen, auf den ersten Blick negiert, bei
näherem Hinhören allerdings lassen die Textzeilen
"God save the Queen, we mean it man, we love our
Queen" eben genau diese Möglichkeit des Wandels zum
Besseren offen und weisen gleichzeitig solche
Äußerungen zurück, die behaupten, die SEX PISTOLS
verunglimpfen die Königin und ihr Vaterland.
Tatsächlich aber lautet die Botschaft: Möge Gott die
Königin erretten, die eine solch kaputte Gesellschaft
repräsentieren muß. Rotten äußerte sich bezüglich
der Boykotte: "Gebt uns die Chance zu spielen, damit
die Leute allein entscheiden können, ob wir ein Haufen
Scheiße sind. Nehmt ihnen nicht das Recht, uns zu
hören. Und wenn dann das Klasse-Publikum in unserem
wundervollen Land unsere Musik nicht mag, dann kann es
sich ins Knie ficken." (zit. nach Mike Flood Page,
in: Sounds 9, 1977).
Da die Band in England nicht mehr auftreten darf, tourte
sie 1977 durch die Niederlande. Auftritte in England
fanden in einer "Guerilla Tour" nur noch unter
Pseudonymen statt, bevorzugter Name war "Spots"
(SEX PISTOLS on tour secretly). Am 25. 12. traten sie zum
letztenmal in ihrem Heimatland auf. Am 3. Januar flogen
die SEX PISTOLS in die USA, wo am 5. Januar ihr erstes
US-Concert in Atlanta stattfand. Es folgten noch weitere
Auftritte in Memphis, San Antonio, Baton Rouge, Dallas,
Tulsa, schließlich ihr letzter in San Francisco. McLaren
war durch sein Management der NEW YORK DOLLS in den USA
schon bekannt. Die Gruppe aber wurde in den Staaten, wie
auch in Europa, eher als Kuriosum angesehen. Am 14.1.1978
fand das letzte Konzert der SEX PISTOLS im 'Winterland
Ballroom' in San Francisco vor 5000 Zuschauern statt. Sie
selbst nannten es ihr schlechtestes Konzert. Ende 1978
flohen die beiden Junkies Sid Vicious und Nancy Spungen
vor der Londoner Polizei nach New York. Sids Versuche,
als Solokünstler Geld zu verdienen, scheiterten. Ein
kleiner Erfolg gelang ihm mit einer Cover-Version von
Frank Sinatras "My Way", auf der B-Seite von
"No One Is Innocent", gesungen von dem aus
England geflohenen Bankräuber Ronald Biggs. Am 12.
Oktober 1978 fanden Polizisten den aufgeschlitzten
Körper der zwanzigjährigen Nancy unter dem Waschbecken
des Zimmers Nummer 100 des New Yorker Künstlerhotels
'Chelsea'. Vicious wurde auf der Stelle festgenommen.
McLaren flog sofort in die USA und bekam Sid gegen eine
Kaution von 50.000 Dollar aus dem New Yorker Riker's
Island Gefängnis frei. Keiner seiner Freunde glaubte,
daß Sid der Täter war. McLaren vermarktete die Story
auf unglaublich geschmacklose Art und Weise: Er verkaufte
T-Shirts mit der Aufschrift "I'm alive - she's dead
- I'm yours", angeblich um die Verteidigung seines
Schützlings zu finanzieren. Sid war völlig aus dem
Tritt, eine Entziehungskur fruchtete nicht. Er driftete
immer tiefer in die Drogensucht ab, ein Selbstmordversuch
scheiterte. Der Tod von Nancy, die selbst schon mehrmals
versucht hatte, sich mit Schlaftabletten umzubringen,
wurde nie aufgeklärt. Noch bevor es zu einer Verhandlung
kam, griff Sid am 2. Februar 1979 erneut zur Spritze,
seiner letzten.
Nach dem Tod von Vicious versucht die Band
weiterzumachen. Sie erstellen noch mit Julien Temple den
Film "The Great Rock'n'Roll Swindle". Johnny
Rotten steigt dann aber doch aus. Später sagte er,
McLaren habe in seiner Gier nach Ruhm und Geld alles
verraten, was die SEX PISTOLS je bedeutet hätten. Rotten
gründete später seine eigene Band, PUBLIC IMAGE
LIMITED. Cook und Jones suchten einen neuen Bassisten.
McLaren bemühte sich derweil, Lydon durch Ronald Briggs
ersetzen. Er verheizte die kaputte Band hemmungslos. Ihr
Rabauken-Image pflegte er durch manipulierte Aktionen.
Auf einer Tournee soll er in Zorn geraten sein, als die
Band brav im Hotel-Zimmer Reggae-Platten hörte, anstatt
ihrem Image als Trouble-Maker und Mobiliar-Zertrümmerer
nachzukommen. Greil Marcus' Versuch über die SEX
PISTOLS, klingt plausibel: Die Öffentlichkeit warf ihnen
Ziel- und Inhaltslosigkeit vor, einen Nihilismus, den
Marcus nicht erkennt. Davon könne bei den SEX PISTOLS
keine Rede sein. Sie praktizierten eher die totale
Verweigerung. Da ein solches Verhalten aber die Existenz
von Menschen in sozialen und gesellschaftspolitischen
Beziehungen voraussetzt, ist die Verweigerung eben dieser
gesellschaftlichen Normen eine Äußerung, die - wenn
auch nicht bewußt reflektiert - eine Kritik an den
herrschenden Verhältnissen bedeutet. Nach Marcus haben
die SEX PISTOLS mehr Bands inspiriert, als sonstwer, doch
als kommerzielles Potential und als Skandal existierten
sie nur in dem kurzen Zeitraum der Veröffentlichung der
1. Single am 26.11.1976 bis zur offiziellen Erklärung
ihrer Auflösung am 14.1.1978.
Joe Stummer (THE CLASH) sagte später über den Einfluß
der SEX PISTOLS auf ihn: "Gestern hielt ich mich
für eine Niete, dann sah ich die SEX PISTOLS und wurde
zum König". Durch die Musik wurde hier etwas
realisiert, was man kaum für möglich gehalten hätte:
Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und sich
durch den ständigen Druck derselben als Versager
abgestempelt sehen, entdecken ihre Power und werden auf
ihre Art und Weise kreativ und sogar erfolgreich. Tony
Parsons läßt ebenfalls nichts auf die SEX PISTOLS
kommen: "Egal, was für eine Ansammlung von Trotteln
sie von heute aus betrachtet sind (...), sie haben an der
Musik eine Herztransplantation vorgenommen."
(Parsons, in: SPEX, 1986, 3)
Das Vermächtnis der umstrittensten und erfolgreichsten
Punkband, die Doppel-LP "The Great Rock'n'Roll
Swindle" ist der Soundtrack des gleichnamigen Films,
der das Leben und die Karriere der SEX PISTOLS zeigt. Er
wurde nach dem Auseinanderfall der Gruppe von McLaren
fertiggestellt und enthält neben den Punk-Hymnen
"Anarchy In The U.K." und "God Save The
Queen" auch einige albern arrangierte Versionen
dieser SEX PISTOLS-Titel ("God Save The Queen"
als Orchesterfassung, eine französische Version von
"Anarchy In The U.K."). Sollte McLaren versucht
haben, die Gruppe hier als von ihm von Anfang an
geplanter Schwindel zu entlarven, so scheitert dies an
einigen "echten" SEX PISTOLS-Stücken auf dem
Album, u. a. den Coverversionen der Rock'n'Roll Klassiker
"Rock Around The Clock", "C'mon
Everybody", "Johnny B. Goode" und
"Roadrunner". Gerade in den beiden
letztgenannten Titeln wird das Original lediglich
musikalisch zitiert, der Text bleibt aus, statt dessen
hört man Rotten und Consorten im Studio rumalbern:
"Stop, stop, it's fuckin awful", "I don't
know the verses, I don't know it", "Don't you
know any other fuckin' song that we can do?"
Einerseits verlacht, verspottet und als musikalische
Dilettanten beschimpft, waren sie die Wegbereiter des
Erfolges von Gruppen wie THE DAMNED, THE CLASH, THE
STRANGLERS, SHAM 69, THE BUZZCOCKS und vielen anderen.
Während John Lydon (alias 'Johnny Rotten') mit PUBLIC
IMAGE LIMITED (PIL) vergleichsweise erfolgreich den
Sprung in die 80er schaffte, mühten sich Cook und Jones
mit ihren Band-Projekten (THE PROFESSIONALS, CHIEFS OF
RELIEF) vergebens, im Rockbiz Fuß zu fassen.
Im vergangenen Jahr verdichteten sich Gerüchte, nach
denen der Rockwelt ein SEX PISTOLS-Revival ins Haus
stehen sollte. Und tatsächlich gingen die SEX PISTOLS 18
Jahre nach ihrem letzten Konzert 1978 wieder auf Tour.
Das Quartett formierte sich aus Johnny Rotten (voc),
Steve Jones (g), Paul Cook (dr) und Glen Matlock aus dem
allerersten Line-Up, der den Platz des verstorbenen Sid
Vicious am Baß wieder einnahm. Passend zum Revival
meldete sich Glen Matlock auch mit einem Solo-Album zu
Wort. Im Mai 1996 erschien "Who's He Think He Is
When He's At Home". Jones Karriere verlief nach dem
Ende der PISTOLS ebenfalls alles andere als
zufriedenstellend. Die PROFESSIONALS, eine Zusammenarbeit
mit PISTOLS-Kompane Paul Cook, lösten sich 1982 bereits
wieder auf. Cook fristete fortan ein Dasein in der
Arbeitslosigkeit, Jones arbeitete gelegentlich für den
Punk-Altmeister Johnny Thunders, für Joan Jett, SIOUXSIE
AND THE BANSHEES und GENERATION X. Aber Ende der 80er war
mit Punk in England nun wirklich nichts mehr zu wollen.
Also verlagerte Jones sein Tätigkeitsfeld in die
Staaten, wo er u. a. mit Iggy Pop und Alex Cox arbeitete.
In Los Angeles fand er in Duff McKagan von GUNS'N'ROSES
einen Verbündeten. Zu gemeinsamen Sessions fanden sich
noch John Taylor (Ex-DURAN DURAN) und Matt Sorum
(GUNS'N'ROSES) ein, und in der örtlichen Club-Szene
brachte es das Projekt mit Coverversionen von Iggy Pop
über THE DAMNED zu ROXY MUSIC zu einem gewissen Ruf.
Maverick nahm sie unter Vertrag und brachte eine CD
dieser NEUROTIC OUTSIDERS auf den Markt ("Jerk"
(1996), WEA). Auch eine Solo-CD von Jones wurde auf den
Markt geworfen. "Mercy" stammt eigentlich aus
dem Jahre 1987, wurde aber nun im Sog der PISTOLS-Reunion
wiederveröffentlicht. In diesem Sinne bestens
vorbereitet, pflegte die englische Vorzeige-Kult-Punkband
ihren eigenen Kult und ging wiedervereinigt auf Tour. In
Deutschland waren sie in München (22. 6.), Hamburg
(29.6.), Berlin (6.7.) und Ochtrup bei Münster (13. 7.)
zu erleben. Das Echo in der Öffentlichkeit faßt die
Süddeutsche Zeitung passend zusammen: "Eine Legende
macht sich lächerlich." (24. 6.96). In seiner
Autobiographie "No Blacks, No Dogs, No Irish"
schrieb Rotten schon 1994 über Punk: "Es hat heute
doch keine Berechtigung mehr, es hat einfach keine Sinn
mehr." Und weiter orakelt er: "Auch wenn es
niemand wahrhaben will: Punk ist seit 18 Jahren tot. Sag
das auch diesen deutschen Pennern, die mit ihren
häßlichen Irokesenköpfen wie alte Hippies in den
Fußgängerzonen herumhängen und fragen: 'Haste mal 'ne
Mark?'"
So ist es wohl eine Frage des Standpunkts, ob man
Äußerungen Rottens auf der Tour, wie "wollt ihr
allen Ernstes noch mehr von diesem Scheißdreck
hören" oder ähnliche Statements als echt punkig
oder schlicht als Verhohnepipelung des Publikums
auffassen will. Tatsache ist, die Pistols tauchten aus
der Versenkung auf, kassierten ihre Gage, killten ihre
Legende und pfiffen auf ihre Fans.
Nichtsdestotrotz stiegen die wegen chronischen
Geldmangels wiedervereinigten Rabauken unter dem Regiment
von Ober-Pöbler Johnny Rotton mit einer Live-Version
ihres Songs "Pretty vacant" sogar wieder in die
Charts ein. Der Great Rock'n'Roll Swindle 1996, der wohl
schlechteste Headliner des Jahres, wurde auf dem Album
"Filthy Lucre" (1996) festgehalten.
Diskografie:
(nur die offiziellen)
"Never
Mind The Bollocks - Here's The Sex Pistols" (1977),
Virgin
"The Great Rock'n'Roll Swindle" (1979), Virgin
"Some Product - Carri On Sex Pistols" (1979),
Virgin
"Filthy Lucre Live" (1996), Virgin
Sampler:
"Flogging A Dead Horse" (1979), Virgin
"Kiss This - Sex Pistols Best Remastered"
(1992), Virgin
Solo-LP von Sid Vicious:
"Sid Sings" (1979), Virgin
THE PROFESSIONALS: (m. Steve Jones u. Paul Cool)
"I Didn't See It Coming" (1981), Virgin
Solo-LP's
von Steve Jones:
"Mercy" (1987), MCA
"Fire And Gasoline" (1989), MCA
Solo-LP's
von Glen Matlock:
"Who's He Think He Is When He's At Home" (1996)
CHIEFS OF RELIEF: (m. Paul Cook)
"Chiefs Of Relief" (1988), Polydor
Best Of/Hitlist:
"Anarchy in the UK" (1976)
"God save the Queen" (1977)
"Pretty vacant" (1977)
"Holidays in the sun" (1977)
Literatur:
Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk -
kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20.
Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992. S. 22-156.
(Pia
Ambrosch)
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