PUNK-ROCK

"Punk passierte zu schnell und war zu schnell vorbei, um zum Kult zu werden" (Parsons, in: 'Spex' 3/1986).

Mitte der 70er Jahre entstand in England eine Musikrichtung, die sich Punk-Rock oder kurz Punk nannte. Sie spielte zunächst vor allem in der Londoner Pub-Szene eine Rolle, aus der sie auch hervorging, begann sich dann aber schnell weiter auszudehnen.
1976 gilt als Geburtsjahr des Punk (1986 wurde allerorten ein 10jähriges Jubiläum gefeiert): Damals fanden die ersten Auftritte von Punk-Bands in Londoner Clubs und der Umgebung fanden statt. Der bekannteste war das am 26. Dezember 1976 eröffnete 'Roxy' im Covent Garden, dem die Stadt London später die Lizenz nicht verlängerte, weitere der 'Vortex-Club' und der altehrwürdige 'Marquee-Club'.
Die SEX PISTOLS gelten als bedeutendste Punk-Band jener Zeit. Ihre 1976 erschienene Single "Anarchy In The U.K." verursachte einen landesweiten Skandal. THE BUZZCOCKS gaben 1976 als Vorgruppe der SEX PISTOLS ihr Debut. Joe Strummer, zunächst Sänger der 101'ERS, gründete zusammen mit Terry Chimes, Paul Simonon und Mick Jones - alle von LONDON S.S. - THE CLASH. SHAM 69 traten im Sommer 1977 zum erstenmal im 'Roxy' auf, dann auch im 'Vortex'. Weitere Gruppen der ersten Stunde waren THE STRANGLERS (sie wurden von den Linken wegen ihres frauenverachtenden Sexismus und ihrer Prügelwütigkeit verabscheut), X-RAY-SPEX mit Frontfrau 'Poly Styrene', CHELSEA, deren Sänger Billy Idol später zu GENERATION X wechselte, die U.K. SUBS, die 1976 als UNITED KINGDOM SUBVERSIVES gegründet wurden, ADAM & THE ANTS, SIOUXSIE AND THE BANSHEES und THE DAMNED, die ihr Line-Up ebenfalls aus der Scene rekrutierten. Sänger Dave Vanian und Bassist Captain Sensible, der von JOHNNY MOPED kam, und kurz bei den SUBTERRANEANS den Baß zupfte, nannten sich 1978 vorübergehend DOOMED, da Gitarrist Bryan James die Rechte an dem Namen hatte, dann aber wieder THE DAMNED.
Musikalisch gesehen stümperhaft aber back to the roots präsentierte sich Punk-Musik losgelöst von der bis dato entwickelten musikalischen und technischen Elaboriertheit des herrschenden Musikbusiness; weg von hohlen Disco-Schnulzen oder intellektuellen Songwriter-Reflexionen. Punk-Songs boten keine verlogenen Messages, keine Illusionen, keine vordergründige Sozialkritik. Die aggressiven Songs waren Abbilder von Frustration und Haß, die aus der Perspektivlosigkeit der Lebenssituation, des Lebens von Jugendlichen aus der Working Class Englands in den tristen Betonvorstädten, herrührten. Der britische Jugendspsychologe Dr. Peter Marsh, der an der Oxford University ein Forschungsprojekt über Agression in der Jugend-Subkultur leitete, stellte fest, daß Punk "tief verwurzelt in den Sozialstrukturen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen dieses Jahrzehnts" ist. Marsh zitierte Songtexte von THE CLASH und anderen Bands für seine These, daß Punk unmittelbar aus der Arbeitslosigkeit und Frustration der Teenager erwuchs. Jimmy Pursey von SHAM 69 beschrieb Punk mit seinen eigenen Worten vor dem gleichen Hintergrund: "Wir sind Punx. Wir kommen alle aus düstern Industriequartieren in London, Liverpool, Birmingham und anderen beschissenen Großstädten. Dort trägt die Jugend 'nen alten Anorak, schmutzige Jeans, tagsüber bolzt man irgendwo Fußball, abends macht man Scheiße, oder man wirft Scheiben mit Ziegelsteinen ein - zum Zeitvertreib und Nervenkitzel. Man macht das, worauf man Bock hat es zu tun, kein Gezögere oder so was. Ja, das sind die Punx, das ist unsere Jugend. Beschissen!" Nicht so sehr die materielle Armut, sondern die Armseligkeit der Jobs, die Schulabgängern jener Zeit geboten wurden, brachte Punk als Jugendbewegung hervor: Zwei Mitglieder von THE DAMED waren Toilettenwärter, der Sänger Totengräber, Johnny Rotten von den SEX PISTOLS hatte Büros geputzt. Die im Outfit zur Schau gestellte Gefährlichkeit des Punks war oft bloße Attitüde, zu deuten als Reflex eines Unwertgefühls gegenüber einer Gesellschaft, die den jungen Leuten aus der Unterschicht keine Aufmerksamkeit zu schenken schien, es sei denn, sie schockierten bewußt. Punk katapultierte die Rockmusik wieder zurück auf die Straße, in kleine Clubs und Festivals. Im Gegensatz zu den Megastars, bei deren Konzerten kein einfacher Fan mehr die gleiche Toilette benutzen durfte, waren die Punk-Musiker wieder welche zum Anfassen. Bei Live-Acts waren sie oft nicht vom Publikum zu unterscheiden: beim Gig ging einfach ein Teil der Anwesenden auf die Bühne. Jeder war zum Mitmachen aufgefordert; wenn also Bands wie THE DAMNED eine Platte mit den trotzigen Worten ankündigten: "Wir können schon drei Akkorde", wenn sich die ADVERTS in einem Songtitel als "One Chord Wonder" vorstellten, war das keineswegs Ironie. Ein Londoner Punk-Fanzine bildete als Spielanleitung für Gitarre die Griffbilder der Akkorde A, E und G ab mit der Aufforderung: "Now form a band." Eine ähnliche Situation gab es schon einmal: Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre, als die Arbeitslosenziffer in den Industriegebieten Englands immer höher kletterte, bestand für viele Teenager eine Möglichkeit zum Ausbruch aus ihren Sozialgettos in gemeinsam mit Gleichgesinnten fabrizierter Musik (THE BEATLES, THE ROLLING STONES etc.). Seit damals ist das Problem der Jugendarbeitslosigkeit allerdings zum weltweiten Problem, zur weltweiten Katastrophe eskaliert. Kein Wunder, daß die Songtexte ein großes Echo fanden, auch außerhalb von Großbritannien. Etablierte Kritiker der Popmusik wehrten sich natürlich gegen den provokanten Dilettantismus dieser neuen Musikrichtung, ironischerweise unter Verwendung des gleichen Begriffsvorrats, den ihre Vorgänger schon für Elvis Presley, THE BEATLES oder die THE ROLLING STONES benutzten: lärmend, einfallslos, brutal, primitiv, geschmacklos, gemein etc.
Das Wort "Punk" ist im 'Oxford Dictionary' schon für das 16. Jahrhundert belegt: Als Substantiv für verwahrloster Mensch, Hure und Irrer, als Adjektiv für verdorben und wertlos. Nach dem Etymologen Eric Partridge soll Punk ursprünglich ein Slangwort für schimmeliges, altbackenes Brot gewesen sein, möglicherweise abgeleitet von dem frz. "pain". In seinem Buch 'Hard Travellin'' nennt der Schriftsteller Kenneth Allsop die jungen Begleiter homosexueller Tramps Punks, im Jargon von US-Gefängnissen bezeichnet das Wort junge Männer, die ihren Körper an alte Knastbrüder verkaufen. Neben diesen Benennungen für Randpersonen der Gesellschaft findet sich das Wort noch in einer isoliert stehenden Bedeutung als Bezeichnung für einen Zirkuselephanten. Seit 1976/77 bezeichnet Punk schließlich die Musik des Punk-Rock sowie den dazugehörenden Musiker und Musikkonsumenten und die von diesen verkörperten Anschauungen.
Verschiedene 1976 in England stattfindende Ereignisse lassen dieses Jahr zu einem besonderen Jahr für die Geschichte der populären Musik werden. Gesellschaftspolitisch kennzeichneten eine große Arbeitslosigkeit und daraus resultierende tiefgreifende soziale Probleme die Lage. Die Labour-Partei kam wieder an die Macht, gleichzeitig erstarkte der rechte Flügel der 'NF' ('Nationale Front'), dem Sammelbecken des Rechtsextremismus. Auf Seiten des Rockbiz war ein Vorfall zündend für die weitere Entwicklung: Eric Clapton, der damals bekannteste westliche Interpret von schwarzer Musik, stimmte öffentlich dem rechten Politiker Enoch Powell zu, daß Schwarze in England nichts zu suchen hätten, England solle weiß bleiben. Das darauffolgende Entsetzen in der britischen Musik-Szene kann man sich vorstellen. Die Bewegung 'RAR' ('Rock Against Racism') wurde ins Leben gerufen. Es ist die erste, von Musikern gegründete politische Interessengruppe; sie existierte bis 1981. 'RAR' war bestrebt, die 'NF' aufzuhalten, indem sie gegen den Mißbrauch von Musik gegen Schwarze und andere Einwanderer vorging. Der neuen Richtung des Punk wollte die 'RAR' helfen, aus seinem anarchisch-faschistoiden Habitus herauszukommen. Jede Punkband sah sich anders, Punk hatte kein spezifisches Konzept. 'RAR' organisierten Konzerte mit schwarzen und weißen Musikern, um das Verständnis der Rassen sowie ein neues politisch-soziales Bewußtsein zu fördern. Zunächst hatte die Punk-Bewegung die schwarzen Kids nicht ergriffen, sie reagierten sich an jamaikanischen Reggae-Rhythmen ab. Punk blieb im Grunde ein weißes Phänomen. Allerdings ließen die Punker als einzige andere Spielart der Rock-Musik den schwarzen Reggae gelten. Gemeinsam war ihnen die fast gleichstark erfahrene Ablehnung, insbesondere durch die Skins. Wie Punk ist Skin ein originär englisches Phänomen, läßt sich aber bis in die 50er Jahre zurückverfolgen. Zu Beginn der 80er Jahre gab es eine kurze Allianz zwischen Skins und Punks, die sich in der Musikrichtung Oi! niederschlug, deren Musiker zeitweise Anhänger aus beiden Lagern rekrutierten. Die Skins machten SHAM 69 zu ihren Favoriten, was deren Frontman und Sänger Jimmy Pursey zu der idealistischen und realitätsfernen Hymne "If The Kids Are United" inspirierte. Julie Burchill schrieb 1976 im NME über die im gleichen Jahr auftauchende Gruppe: "SHAM 69 play rock in the manner that American negroes fight; not for fun but for existence." Pursey reflektierte in seinen Texten und Bühnen-Moderationen ebenfalls die Probleme der Unterprivilegierten, Schwachen und sozialen Randgruppen, beklagte aber die mangelnde politische Tiefe anderer Punk-Bands. Er war sich der politischen Dimension bewußter als manche seiner Kollegen. Texte von THE CLASH enthalten im Gegensatz zu Purseys unreflektierte stereotype Parolen; den gleichen Eindruck macht die Äußerung Paul Simonons zu diesem Punkt, dessen Bruder der 'NF' angehörte und später Selbstmord beging: "Wir sind zwar keine wirklich politische Gruppe, sind aber sozial hellwach. Ich denke darüber nach, wer mir was tut und wie ich darauf reagiere. Das nenne ich Politik."
Später hatte Pursey die Nase voll von den ständigen Krawallen zwischen Punks und Skins auf seinen Konzerten, und vor allem, daß er dafür verantwortlich gemacht wurde. "Unser Londoner Stammpublikum kommt aus den rauhen Gegenden im East End, wo die Nationale Front ihre Anhängerschaft hat. Wenn Typen aus dieser Ecke zu den Konzerten kommen, kriegst du zwangsläufig ein Stammpublikum mit solchen Ansichten." Diese Anhängerschaft aus der rechten Ecke machte sich bei SHAM 69 Konzerten wiederholt durch Nazi-Parolen und Krawalle bemerkbar. Joe Strummer von THE CLASH wehrte sich ebenfalls gegen die Behauptung, zur Gewaltanwendung zu animieren: "Wir putschen die Fans nicht zur Gewaltanwendung auf, nur unsere Musik klingt gewalttätig. Wenn man eine Konfrontation nur mit Gewalt lösen kann, so sollte man's tun. Ich akzeptiere Gewalt, die mit der Wahrnehmung des Ehrgefühls verbunden ist. Wir sind nicht hart genug. Keiner wird uns je was schenken. Wenn du was willst, mußt du es dir nehmen. Aber wenn ich mich schlage, dann nur aus 'nem triftigen Grund." Nach der kurzen Allianz zwischen Punks und Skins wurde offene Feindschaft praktiziert. Für die Punks entsprang diese aus der nationalistischen Haltung der Skins, die ihre Nähe zur britischen NF nicht verleugnen konnten.
An Vorläufern von Punk sind die frühen Garagenbands der sechziger Jahre in Amerika, CAPTAIN BEEFHEART, Andy Warhols VELVET UNDERGROUND, Iggy Pop & THE STOOGES zu nennen, aber auch Einzelgänger-Typen wie Marlon Brando und James Dean in ihren frühen Filmen. Die vom White Panthers-Führer John Sinclair geförderte militante Heavyrock-Band MC 5 forderte ihre Fans in Detroit bereits 1969 auf: "Kick Out The Jams, Motherfuckers!" Iggy Pop zerfetzte sich mit einer Glasscherbe 1970 in Detroit auf der Bühne die Brust, ließ seine Band THE STOOGES in Naziuniformen auftreten und wird heute von Punks als Urvater gefeiert. Abgesehen von der Musik dieser Bands lehnte Punk sofort die Musik vor ihm ab und indem er eine Tradition zerstörte, begründete er eine neue. Grundsätzlich sind US-amerikanischer Punk und europäischer Punk verschieden. Die Punktexte der US-Bands waren weit weniger brutal und direkt, als die ihrer britischen Kollegen. Darüberhinaus war der europäische Punk fast immer fest mit politischen Aktivitäten verbunden, wie z. B. der Hausbesetzer-Szene (zu nennen wäre hier die zu einiger Berühmtheit gelangte deutsche Polit-Punkband SLIME). Eine der bekanntesten amerikanischen Punk-Bands waren wohl die Ende 1971 gegründeten NEW YORK DOLLS mit Gitarrist und Sänger Johnny Thunders. Er ging 1975 mit Richard Hell von TELEVISION zu den HEARTBREAKERS. David Johannsen führte die DOLLS noch ein Jahr weiter, gründete dann aber seine eigene Gruppe, DAVID JOHANNSEN & THE STATEN ISLAND BOYS, Hell machte mit RICHARD HELL & THE VOIDOIDS weiter. US-amerikanische Punk-Clubs waren der 'CBGB-Club' in New York, 'The Rat' in Boston und das 'Masque' in Hollywood. Weitere US-Bands waren die SNAKES, die RAMONES, Patti Smith, DEAD BOYS, BLONDIE und die DEAD KENNEDYS mit ihrem exzessiven Sänger Jello Biafra. Aber keine von diesen erreichten in den Staaten und darüberhinaus auch nur annähernd die Massenwirkung, wie beispielsweise die SEX PISTOLS in England. Das gesellschaftliche Klima brauchte wohl noch eine Zeit.
Die zunächst nur in der englischen Presse reflektierte Punk-Szene wurde bald auch außerhalb Englands wahrgenommen. Die deutsche Musikzeitschrift 'Sounds' beschäftigte sich in der Januar-Ausgabe des Jahres 1977 zum erstenmal ausführlicher mit Punk-Rock. Im Januar 1978 war das Phänomen Punk dem 'Spiegel' eine Titelstory wert. Die ersten, die mit den neuen schrägen Klängen in Deutschland auffielen, waren die STRAßENJUNGS (1977 in Frankfurt), BIG BALLS AND THE GREAT WHITE IDIOT (1977 in Hamburg) und PVC (1977 in Berlin), die an die neue englische Spielart sowie an die deutsche Polit-Rockband TON STEINE SCHERBEN anknüpften, an weiteren sind CANALTERROR, NORMAHL, ABWÄRTS, S.Y.P.H., TOTEN HOSEN, UPRIGHT CITIZENS, SPERMBIRDS u. a. zu nennen. Anläßlich der Auflösung der SEX PISTOLS 1979, denen als einzigen eine eindrucksvolle Erschütterung des Establishments via permanenter Medienskandale gelang, wurde Punk als Vergangenheit betrachtet und New Wave zum neuen Favoriten der Musikpresse. Gruppen wie THE CLASH, deren gleichnamige erste LP aus dem Jahr 1977 als besonders herausragend gilt, oder THE DAMNED begannen einige Punk-Attitüden zu verlieren, wurden kommerziell erfolgreich, von ihren ehemaligen Mitstreitern aber auch als Verräter an der Sache beschimpft. Ein Punk-Musiker, der Tantiemen aufs Konto schaufelte und sich mit dem Auto durch die Gegend chauffieren ließe, wäre ein Widerspruch in sich. Die STRANGLERS gar wurden nur mit ihrer LP "No More Heroes" zum Punk gezählt, sonst zu New Wave. "Da stehen wir auf der Bühne und singen 'No More Heroes'", bekundet STANGLERS-Sänger Hugh Cornwell, "und da unten sitzen Abertausende von Fans, die uns zujubeln. Es scheint, daß wir den Mythos, den wir zerstören wollten, noch weiter ausbauen." Nur in den trostlosen Vorstädten, wo die Kids noch ihre ersten Akkorde üben, konnte man von Punk noch als echter 'Volksmusik' reden. Diejenigen Bands, die in dieser ursprünglichen Weise weiter machten, wurden von den Medien wieder an den Rand des Wohlwollens gerückt. 1981 war in den britischen Indie-Charts die Debut-LP "Punk's Not Dead" von EXPLOIDED die meistverkaufte LP des Jahres. 1982 widmete das englische 'Sounds' in seiner Dezemberausgabe dem Punk ein großes Feature: "Dead or alive?". Hardcore als Musikrichtung etablierte sich und löste Punk stellenweise ab.
Jede Art Extremismus, sei er links oder rechts, versuchte die Punk-Bewegung für sich zu vereinnahmen, Punk aber entzieht sich (noch) jeder überkommenen Theorie. Für fast alle Wertvorstellungen der Erwachsenen, für Mode und Musik aller Generationen vor ihnen, sogar für die Hippies und erst recht für die Punk-Nachahmer aus der eleganten Welt, hatten die Punks nur Worte der Verachtung übrig, oder blanken Haß. Vor allem die Rock-Rebellen von gestern, die nichts mehr zu singen haben, aber dennoch nicht abtreten wollen, waren den Punks zuwider. John Lydon alias Johnny Rotten (SEX PISTOLS) bringt es auf den Punkt: "Heute ist Punk zu einer Lederjacke degeneriert, auf deren Rücken 'Anarchie' steht. Ich finde das traurig. Das ist genau die Art von Uniform, gegen die wir uns immer gewehrt haben. Ich finde, daß England immer apathischer wird. Die einzige Rebellion, die hier noch passiert, findet auf dem Fußballplatz statt. Da können die Leute ihre Agressionen ausleben, weil sie nicht gelernt haben, sich anders zu artikulieren." Natürlich bot Punk keine Möglichkeit, sich musikalisch in irgendeiner Richtung weiter zu entwickeln, dazu waren die musikalischen Muster zu monoton und schematisch. Aber er gab neue Anstöße. Seine Radikalität, sein Kulturpessimismus und sein Außenseitertum führten zu einer Neubelebung avantgardistischer Musik. Gerade die Ablehnung des Kulturbetriebs und seiner Industrie erforderten neue Distributions- und Produktionswege. Kleine, selbstverwaltete Labels wurden gegründet, die sogenannten Independent- oder Indie-Labels, wie 'New Hormones', das Label der BUZZCOCKS, 'Chiswick Records', das die 101'ERS, JOHNNY MOPED und MOTÖRHEAD verlegte, 'Beggars Banquet', 'No Future', 'Riot' uvm. und die großen Firmen waren bereit, hohe Garantiesummen zu zahlen, um sie vertreiben zu dürfen. So sang z. B. CBS-Chef Walter Yetnikoff dem SEX PISTOLS-Manager Malcom McLaren bei Vertragsverhandlungen den kompletten Text von "Anarchy In The U.K." vor, um seine angebliche Begeisterung zu demonstrieren. McLaren schätzte die Situation richtig ein: "Das sind Huren. Vor ein paar Monaten hätten sie uns noch vom Pförtner abweisen lassen, jetzt wollen sie alle mit uns photographiert werden, bloß weil wir ein paar Platten verkaufen." Inzwischen wurde Punk Big Business. Für Bela B. von der deutschen Fun-Punk-Band DIE ÄRZE hat Punk "auf jeden Fall Bands wie uns ermöglicht, weil es dabei nicht auf das spielerische Können ankommt, sondern auf das Lebensgefühl. Insofern sind die ÄRZTE bis zum Schluß eine Punk-Band geblieben. Denn wir haben auf der Bühne immer ein bestimmtes Lebensgefühl vertreten." Nach dieser Äußerung 1988 löste sich die Band auf, um 1993 erfolgreich ihre Wiederauferstehung zu feiern. Doch während Punk von der Kulturindustrie geschluckt wurde, blühte die Avantgarde international auf. Musikalische Weiterentwicklungen und Verfeinerungen in New Wave, Progressive Punk, Industrial Rock und Crossover bringen Großartiges hervor. Mit dem technischen Fortschritt rechnete die Pop-Avantgarde rigoros ab. Aber nicht nur ihn stellte sie durch ihre Expermentierfreudigkeit in Frage, sondern auch die zwischenmenschliche Kommunikation, Sprache überhaupt in unserer Zeit. Zerstörung und Frustration werden musikalisch thematisiert, Sprache als Instrument benutzt, ebenso wurde mit Dekomposition von Sprache experimentiert, wie auch teilweise in der Neuen Musik eines György Ligeti, Dieter Schnebel oder John Cage. Die Pop-Avantgarde aber ist emanzipatorischer als die Neue Musik, die das Experiment zum Kult erhoben hat und sich den technischen Apparaten ausliefert. Musiker gehen neue Wege. So wirkten die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN 1987 in Peter Zadeks "Andi"-Aufführung am Hamburger Schauspielhaus mit. Vor der Aufführung wurden Handzettel verteilt, die das Publikum vor Hörschäden warnten. Die TOTEN HOSEN bestritten 1988 in der Bonner Inszenierung von "Uhrwerk Orange" den musikalischen Part und F. M. Einheit, Drummer bei ABWÄRTS, dann "Schlagwerker" bei den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN trat in letzter Zeit primär als Komponist von Bühnen- und Theatermusiken in Erscheinung.
Dennoch teilt die Pop-Avantgarde und so auch der Punk-Rock das Schicksal jeder neuen Richtung: Einerseits ist eine stärkere Verbreitung wünschenswert, andererseits besteht dadurch die Gefahr, kommerziell ausgeschlachtet zu werden und die ursprüngliche innovative Kraft einzubüßen. Das für die Neunziger proklamierte Punk-Revival blieb bisher aus bzw. beschränkte sich auf Designer-Klamotten im fetzigen Hundehalsband- und Sicherheitsnadel-Look.


Diskografie (Sampler in Auswahl):

"The Roxy London WC2 (Jan-Apr 1977) (1977), Harvest
"Jubilee" (1977), EG/Polydor
"Streets" (1977), Beggars Banquet
"Oi! The Album" (1980), EMI
"Punk And Disorderly" (1981), Abstract
"The Apocalypse Punk Tour 1981", Street Link Records
"The Chiswick Story 1975-1982", Ace Records
"Burning Ambitions (A History Of Punk)" (1982), Cherry Red
"Punk And Disorderly - Further Charges" (1982), Anagram
"A Country Fit For Heroes" (1982), No Future
"The Kids Are United" (1983), Secret
"Punk Off", Eurostar
"Deutsch Punk-Kampflieder", Aggressive Rockproduktion
"Punk's Not Dread", Revolver Records


Literatur:

Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk - kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992. S. 22-156.
Lau, Thomas: Die heiligen Narren. Punk 1976-1986. Berlin/New York. 1992.

(Pia Ambrosch)