PUNK-ROCK
"Punk passierte zu schnell und war zu schnell
vorbei, um zum Kult zu werden" (Parsons, in: 'Spex'
3/1986). Mitte der 70er Jahre entstand in
England eine Musikrichtung, die sich Punk-Rock oder kurz
Punk nannte. Sie spielte zunächst vor allem in der
Londoner Pub-Szene eine Rolle, aus der sie auch
hervorging, begann sich dann aber schnell weiter
auszudehnen.
1976 gilt als Geburtsjahr des Punk (1986 wurde allerorten
ein 10jähriges Jubiläum gefeiert): Damals fanden die
ersten Auftritte von Punk-Bands in Londoner Clubs und der
Umgebung fanden statt. Der bekannteste war das am 26.
Dezember 1976 eröffnete 'Roxy' im Covent Garden, dem die
Stadt London später die Lizenz nicht verlängerte,
weitere der 'Vortex-Club' und der altehrwürdige
'Marquee-Club'.
Die SEX PISTOLS gelten als bedeutendste Punk-Band jener
Zeit. Ihre 1976 erschienene Single "Anarchy In The
U.K." verursachte einen landesweiten Skandal. THE
BUZZCOCKS gaben 1976 als Vorgruppe der SEX PISTOLS ihr
Debut. Joe Strummer, zunächst Sänger der 101'ERS,
gründete zusammen mit Terry Chimes, Paul Simonon und
Mick Jones - alle von LONDON S.S. - THE CLASH. SHAM 69
traten im Sommer 1977 zum erstenmal im 'Roxy' auf, dann
auch im 'Vortex'. Weitere Gruppen der ersten Stunde waren
THE STRANGLERS (sie wurden von den Linken wegen ihres
frauenverachtenden Sexismus und ihrer Prügelwütigkeit
verabscheut), X-RAY-SPEX mit Frontfrau 'Poly Styrene',
CHELSEA, deren Sänger Billy Idol später zu GENERATION X
wechselte, die U.K. SUBS, die 1976 als UNITED KINGDOM
SUBVERSIVES gegründet wurden, ADAM & THE ANTS,
SIOUXSIE AND THE BANSHEES und THE DAMNED, die ihr Line-Up
ebenfalls aus der Scene rekrutierten. Sänger Dave Vanian
und Bassist Captain Sensible, der von JOHNNY MOPED kam,
und kurz bei den SUBTERRANEANS den Baß zupfte, nannten
sich 1978 vorübergehend DOOMED, da Gitarrist Bryan James
die Rechte an dem Namen hatte, dann aber wieder THE
DAMNED.
Musikalisch gesehen stümperhaft aber back to the roots
präsentierte sich Punk-Musik losgelöst von der bis dato
entwickelten musikalischen und technischen Elaboriertheit
des herrschenden Musikbusiness; weg von hohlen
Disco-Schnulzen oder intellektuellen
Songwriter-Reflexionen. Punk-Songs boten keine verlogenen
Messages, keine Illusionen, keine vordergründige
Sozialkritik. Die aggressiven Songs waren Abbilder von
Frustration und Haß, die aus der Perspektivlosigkeit der
Lebenssituation, des Lebens von Jugendlichen aus der
Working Class Englands in den tristen Betonvorstädten,
herrührten. Der britische Jugendspsychologe Dr. Peter
Marsh, der an der Oxford University ein Forschungsprojekt
über Agression in der Jugend-Subkultur leitete, stellte
fest, daß Punk "tief verwurzelt in den
Sozialstrukturen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen
dieses Jahrzehnts" ist. Marsh zitierte Songtexte von
THE CLASH und anderen Bands für seine These, daß Punk
unmittelbar aus der Arbeitslosigkeit und Frustration der
Teenager erwuchs. Jimmy Pursey von SHAM 69 beschrieb Punk
mit seinen eigenen Worten vor dem gleichen Hintergrund:
"Wir sind Punx. Wir kommen alle aus düstern
Industriequartieren in London, Liverpool, Birmingham und
anderen beschissenen Großstädten. Dort trägt die
Jugend 'nen alten Anorak, schmutzige Jeans, tagsüber
bolzt man irgendwo Fußball, abends macht man Scheiße,
oder man wirft Scheiben mit Ziegelsteinen ein - zum
Zeitvertreib und Nervenkitzel. Man macht das, worauf man
Bock hat es zu tun, kein Gezögere oder so was. Ja, das
sind die Punx, das ist unsere Jugend. Beschissen!"
Nicht so sehr die materielle Armut, sondern die
Armseligkeit der Jobs, die Schulabgängern jener Zeit
geboten wurden, brachte Punk als Jugendbewegung hervor:
Zwei Mitglieder von THE DAMED waren Toilettenwärter, der
Sänger Totengräber, Johnny Rotten von den SEX PISTOLS
hatte Büros geputzt. Die im Outfit zur Schau gestellte
Gefährlichkeit des Punks war oft bloße Attitüde, zu
deuten als Reflex eines Unwertgefühls gegenüber einer
Gesellschaft, die den jungen Leuten aus der Unterschicht
keine Aufmerksamkeit zu schenken schien, es sei denn, sie
schockierten bewußt. Punk katapultierte die Rockmusik
wieder zurück auf die Straße, in kleine Clubs und
Festivals. Im Gegensatz zu den Megastars, bei deren
Konzerten kein einfacher Fan mehr die gleiche Toilette
benutzen durfte, waren die Punk-Musiker wieder welche zum
Anfassen. Bei Live-Acts waren sie oft nicht vom Publikum
zu unterscheiden: beim Gig ging einfach ein Teil der
Anwesenden auf die Bühne. Jeder war zum Mitmachen
aufgefordert; wenn also Bands wie THE DAMNED eine Platte
mit den trotzigen Worten ankündigten: "Wir können
schon drei Akkorde", wenn sich die ADVERTS in einem
Songtitel als "One Chord Wonder" vorstellten,
war das keineswegs Ironie. Ein Londoner Punk-Fanzine
bildete als Spielanleitung für Gitarre die Griffbilder
der Akkorde A, E und G ab mit der Aufforderung: "Now
form a band." Eine ähnliche Situation gab es schon
einmal: Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre, als die
Arbeitslosenziffer in den Industriegebieten Englands
immer höher kletterte, bestand für viele Teenager eine
Möglichkeit zum Ausbruch aus ihren Sozialgettos in
gemeinsam mit Gleichgesinnten fabrizierter Musik (THE
BEATLES, THE ROLLING STONES etc.). Seit damals ist das
Problem der Jugendarbeitslosigkeit allerdings zum
weltweiten Problem, zur weltweiten Katastrophe eskaliert.
Kein Wunder, daß die Songtexte ein großes Echo fanden,
auch außerhalb von Großbritannien. Etablierte Kritiker
der Popmusik wehrten sich natürlich gegen den
provokanten Dilettantismus dieser neuen Musikrichtung,
ironischerweise unter Verwendung des gleichen
Begriffsvorrats, den ihre Vorgänger schon für Elvis
Presley, THE BEATLES oder die THE ROLLING STONES
benutzten: lärmend, einfallslos, brutal, primitiv,
geschmacklos, gemein etc.
Das Wort "Punk" ist im 'Oxford Dictionary'
schon für das 16. Jahrhundert belegt: Als Substantiv
für verwahrloster Mensch, Hure und Irrer, als Adjektiv
für verdorben und wertlos. Nach dem Etymologen Eric
Partridge soll Punk ursprünglich ein Slangwort für
schimmeliges, altbackenes Brot gewesen sein,
möglicherweise abgeleitet von dem frz. "pain".
In seinem Buch 'Hard Travellin'' nennt der Schriftsteller
Kenneth Allsop die jungen Begleiter homosexueller Tramps
Punks, im Jargon von US-Gefängnissen bezeichnet das Wort
junge Männer, die ihren Körper an alte Knastbrüder
verkaufen. Neben diesen Benennungen für Randpersonen der
Gesellschaft findet sich das Wort noch in einer isoliert
stehenden Bedeutung als Bezeichnung für einen
Zirkuselephanten. Seit 1976/77 bezeichnet Punk
schließlich die Musik des Punk-Rock sowie den
dazugehörenden Musiker und Musikkonsumenten und die von
diesen verkörperten Anschauungen.
Verschiedene 1976 in England stattfindende Ereignisse
lassen dieses Jahr zu einem besonderen Jahr für die
Geschichte der populären Musik werden.
Gesellschaftspolitisch kennzeichneten eine große
Arbeitslosigkeit und daraus resultierende tiefgreifende
soziale Probleme die Lage. Die Labour-Partei kam wieder
an die Macht, gleichzeitig erstarkte der rechte Flügel
der 'NF' ('Nationale Front'), dem Sammelbecken des
Rechtsextremismus. Auf Seiten des Rockbiz war ein Vorfall
zündend für die weitere Entwicklung: Eric Clapton, der
damals bekannteste westliche Interpret von schwarzer
Musik, stimmte öffentlich dem rechten Politiker Enoch
Powell zu, daß Schwarze in England nichts zu suchen
hätten, England solle weiß bleiben. Das darauffolgende
Entsetzen in der britischen Musik-Szene kann man sich
vorstellen. Die Bewegung 'RAR' ('Rock Against Racism')
wurde ins Leben gerufen. Es ist die erste, von Musikern
gegründete politische Interessengruppe; sie existierte
bis 1981. 'RAR' war bestrebt, die 'NF' aufzuhalten, indem
sie gegen den Mißbrauch von Musik gegen Schwarze und
andere Einwanderer vorging. Der neuen Richtung des Punk
wollte die 'RAR' helfen, aus seinem
anarchisch-faschistoiden Habitus herauszukommen. Jede
Punkband sah sich anders, Punk hatte kein spezifisches
Konzept. 'RAR' organisierten Konzerte mit schwarzen und
weißen Musikern, um das Verständnis der Rassen sowie
ein neues politisch-soziales Bewußtsein zu fördern.
Zunächst hatte die Punk-Bewegung die schwarzen Kids
nicht ergriffen, sie reagierten sich an jamaikanischen
Reggae-Rhythmen ab. Punk blieb im Grunde ein weißes
Phänomen. Allerdings ließen die Punker als einzige
andere Spielart der Rock-Musik den schwarzen Reggae
gelten. Gemeinsam war ihnen die fast gleichstark
erfahrene Ablehnung, insbesondere durch die Skins. Wie
Punk ist Skin ein originär englisches Phänomen, läßt
sich aber bis in die 50er Jahre zurückverfolgen. Zu
Beginn der 80er Jahre gab es eine kurze Allianz zwischen
Skins und Punks, die sich in der Musikrichtung Oi!
niederschlug, deren Musiker zeitweise Anhänger aus
beiden Lagern rekrutierten. Die Skins machten SHAM 69 zu
ihren Favoriten, was deren Frontman und Sänger Jimmy
Pursey zu der idealistischen und realitätsfernen Hymne
"If The Kids Are United" inspirierte. Julie
Burchill schrieb 1976 im NME über die im gleichen Jahr
auftauchende Gruppe: "SHAM 69 play rock in the
manner that American negroes fight; not for fun but for
existence." Pursey reflektierte in seinen Texten und
Bühnen-Moderationen ebenfalls die Probleme der
Unterprivilegierten, Schwachen und sozialen Randgruppen,
beklagte aber die mangelnde politische Tiefe anderer
Punk-Bands. Er war sich der politischen Dimension
bewußter als manche seiner Kollegen. Texte von THE CLASH
enthalten im Gegensatz zu Purseys unreflektierte
stereotype Parolen; den gleichen Eindruck macht die
Äußerung Paul Simonons zu diesem Punkt, dessen Bruder
der 'NF' angehörte und später Selbstmord beging:
"Wir sind zwar keine wirklich politische Gruppe,
sind aber sozial hellwach. Ich denke darüber nach, wer
mir was tut und wie ich darauf reagiere. Das nenne ich
Politik."
Später hatte Pursey die Nase voll von den ständigen
Krawallen zwischen Punks und Skins auf seinen Konzerten,
und vor allem, daß er dafür verantwortlich gemacht
wurde. "Unser Londoner Stammpublikum kommt aus den
rauhen Gegenden im East End, wo die Nationale Front ihre
Anhängerschaft hat. Wenn Typen aus dieser Ecke zu den
Konzerten kommen, kriegst du zwangsläufig ein
Stammpublikum mit solchen Ansichten." Diese
Anhängerschaft aus der rechten Ecke machte sich bei SHAM
69 Konzerten wiederholt durch Nazi-Parolen und Krawalle
bemerkbar. Joe Strummer von THE CLASH wehrte sich
ebenfalls gegen die Behauptung, zur Gewaltanwendung zu
animieren: "Wir putschen die Fans nicht zur
Gewaltanwendung auf, nur unsere Musik klingt
gewalttätig. Wenn man eine Konfrontation nur mit Gewalt
lösen kann, so sollte man's tun. Ich akzeptiere Gewalt,
die mit der Wahrnehmung des Ehrgefühls verbunden ist.
Wir sind nicht hart genug. Keiner wird uns je was
schenken. Wenn du was willst, mußt du es dir nehmen.
Aber wenn ich mich schlage, dann nur aus 'nem triftigen
Grund." Nach der kurzen Allianz zwischen Punks und
Skins wurde offene Feindschaft praktiziert. Für die
Punks entsprang diese aus der nationalistischen Haltung
der Skins, die ihre Nähe zur britischen NF nicht
verleugnen konnten.
An Vorläufern von Punk sind die frühen Garagenbands der
sechziger Jahre in Amerika, CAPTAIN BEEFHEART, Andy
Warhols VELVET UNDERGROUND, Iggy Pop & THE STOOGES zu
nennen, aber auch Einzelgänger-Typen wie Marlon Brando
und James Dean in ihren frühen Filmen. Die vom White
Panthers-Führer John Sinclair geförderte militante
Heavyrock-Band MC 5 forderte ihre Fans in Detroit bereits
1969 auf: "Kick Out The Jams, Motherfuckers!"
Iggy Pop zerfetzte sich mit einer Glasscherbe 1970 in
Detroit auf der Bühne die Brust, ließ seine Band THE
STOOGES in Naziuniformen auftreten und wird heute von
Punks als Urvater gefeiert. Abgesehen von der Musik
dieser Bands lehnte Punk sofort die Musik vor ihm ab und
indem er eine Tradition zerstörte, begründete er eine
neue. Grundsätzlich sind US-amerikanischer Punk und
europäischer Punk verschieden. Die Punktexte der
US-Bands waren weit weniger brutal und direkt, als die
ihrer britischen Kollegen. Darüberhinaus war der
europäische Punk fast immer fest mit politischen
Aktivitäten verbunden, wie z. B. der Hausbesetzer-Szene
(zu nennen wäre hier die zu einiger Berühmtheit
gelangte deutsche Polit-Punkband SLIME). Eine der
bekanntesten amerikanischen Punk-Bands waren wohl die
Ende 1971 gegründeten NEW YORK DOLLS mit Gitarrist und
Sänger Johnny Thunders. Er ging 1975 mit Richard Hell
von TELEVISION zu den HEARTBREAKERS. David Johannsen
führte die DOLLS noch ein Jahr weiter, gründete dann
aber seine eigene Gruppe, DAVID JOHANNSEN & THE
STATEN ISLAND BOYS, Hell machte mit RICHARD HELL &
THE VOIDOIDS weiter. US-amerikanische Punk-Clubs waren
der 'CBGB-Club' in New York, 'The Rat' in Boston und das
'Masque' in Hollywood. Weitere US-Bands waren die SNAKES,
die RAMONES, Patti Smith, DEAD BOYS, BLONDIE und die DEAD
KENNEDYS mit ihrem exzessiven Sänger Jello Biafra. Aber
keine von diesen erreichten in den Staaten und
darüberhinaus auch nur annähernd die Massenwirkung, wie
beispielsweise die SEX PISTOLS in England. Das
gesellschaftliche Klima brauchte wohl noch eine Zeit.
Die zunächst nur in der englischen Presse reflektierte
Punk-Szene wurde bald auch außerhalb Englands
wahrgenommen. Die deutsche Musikzeitschrift 'Sounds'
beschäftigte sich in der Januar-Ausgabe des Jahres 1977
zum erstenmal ausführlicher mit Punk-Rock. Im Januar
1978 war das Phänomen Punk dem 'Spiegel' eine Titelstory
wert. Die ersten, die mit den neuen schrägen Klängen in
Deutschland auffielen, waren die STRAßENJUNGS (1977 in
Frankfurt), BIG BALLS AND THE GREAT WHITE IDIOT (1977 in
Hamburg) und PVC (1977 in Berlin), die an die neue
englische Spielart sowie an die deutsche Polit-Rockband
TON STEINE SCHERBEN anknüpften, an weiteren sind
CANALTERROR, NORMAHL, ABWÄRTS, S.Y.P.H., TOTEN HOSEN,
UPRIGHT CITIZENS, SPERMBIRDS u. a. zu nennen. Anläßlich
der Auflösung der SEX PISTOLS 1979, denen als einzigen
eine eindrucksvolle Erschütterung des Establishments via
permanenter Medienskandale gelang, wurde Punk als
Vergangenheit betrachtet und New Wave zum neuen Favoriten
der Musikpresse. Gruppen wie THE CLASH, deren
gleichnamige erste LP aus dem Jahr 1977 als besonders
herausragend gilt, oder THE DAMNED begannen einige
Punk-Attitüden zu verlieren, wurden kommerziell
erfolgreich, von ihren ehemaligen Mitstreitern aber auch
als Verräter an der Sache beschimpft. Ein Punk-Musiker,
der Tantiemen aufs Konto schaufelte und sich mit dem Auto
durch die Gegend chauffieren ließe, wäre ein
Widerspruch in sich. Die STRANGLERS gar wurden nur mit
ihrer LP "No More Heroes" zum Punk gezählt,
sonst zu New Wave. "Da stehen wir auf der Bühne und
singen 'No More Heroes'", bekundet STANGLERS-Sänger
Hugh Cornwell, "und da unten sitzen Abertausende von
Fans, die uns zujubeln. Es scheint, daß wir den Mythos,
den wir zerstören wollten, noch weiter ausbauen."
Nur in den trostlosen Vorstädten, wo die Kids noch ihre
ersten Akkorde üben, konnte man von Punk noch als echter
'Volksmusik' reden. Diejenigen Bands, die in dieser
ursprünglichen Weise weiter machten, wurden von den
Medien wieder an den Rand des Wohlwollens gerückt. 1981
war in den britischen Indie-Charts die Debut-LP
"Punk's Not Dead" von EXPLOIDED die
meistverkaufte LP des Jahres. 1982 widmete das englische
'Sounds' in seiner Dezemberausgabe dem Punk ein großes
Feature: "Dead or alive?". Hardcore als
Musikrichtung etablierte sich und löste Punk
stellenweise ab.
Jede Art Extremismus, sei er links oder rechts, versuchte
die Punk-Bewegung für sich zu vereinnahmen, Punk aber
entzieht sich (noch) jeder überkommenen Theorie. Für
fast alle Wertvorstellungen der Erwachsenen, für Mode
und Musik aller Generationen vor ihnen, sogar für die
Hippies und erst recht für die Punk-Nachahmer aus der
eleganten Welt, hatten die Punks nur Worte der Verachtung
übrig, oder blanken Haß. Vor allem die Rock-Rebellen
von gestern, die nichts mehr zu singen haben, aber
dennoch nicht abtreten wollen, waren den Punks zuwider.
John Lydon alias Johnny Rotten (SEX PISTOLS) bringt es
auf den Punkt: "Heute ist Punk zu einer Lederjacke
degeneriert, auf deren Rücken 'Anarchie' steht. Ich
finde das traurig. Das ist genau die Art von Uniform,
gegen die wir uns immer gewehrt haben. Ich finde, daß
England immer apathischer wird. Die einzige Rebellion,
die hier noch passiert, findet auf dem Fußballplatz
statt. Da können die Leute ihre Agressionen ausleben,
weil sie nicht gelernt haben, sich anders zu
artikulieren." Natürlich bot Punk keine
Möglichkeit, sich musikalisch in irgendeiner Richtung
weiter zu entwickeln, dazu waren die musikalischen Muster
zu monoton und schematisch. Aber er gab neue Anstöße.
Seine Radikalität, sein Kulturpessimismus und sein
Außenseitertum führten zu einer Neubelebung
avantgardistischer Musik. Gerade die Ablehnung des
Kulturbetriebs und seiner Industrie erforderten neue
Distributions- und Produktionswege. Kleine,
selbstverwaltete Labels wurden gegründet, die
sogenannten Independent- oder Indie-Labels, wie 'New
Hormones', das Label der BUZZCOCKS, 'Chiswick Records',
das die 101'ERS, JOHNNY MOPED und MOTÖRHEAD verlegte,
'Beggars Banquet', 'No Future', 'Riot' uvm. und die
großen Firmen waren bereit, hohe Garantiesummen zu
zahlen, um sie vertreiben zu dürfen. So sang z. B.
CBS-Chef Walter Yetnikoff dem SEX PISTOLS-Manager Malcom
McLaren bei Vertragsverhandlungen den kompletten Text von
"Anarchy In The U.K." vor, um seine angebliche
Begeisterung zu demonstrieren. McLaren schätzte die
Situation richtig ein: "Das sind Huren. Vor ein paar
Monaten hätten sie uns noch vom Pförtner abweisen
lassen, jetzt wollen sie alle mit uns photographiert
werden, bloß weil wir ein paar Platten verkaufen."
Inzwischen wurde Punk Big Business. Für Bela B. von der
deutschen Fun-Punk-Band DIE ÄRZE hat Punk "auf
jeden Fall Bands wie uns ermöglicht, weil es dabei nicht
auf das spielerische Können ankommt, sondern auf das
Lebensgefühl. Insofern sind die ÄRZTE bis zum Schluß
eine Punk-Band geblieben. Denn wir haben auf der Bühne
immer ein bestimmtes Lebensgefühl vertreten." Nach
dieser Äußerung 1988 löste sich die Band auf, um 1993
erfolgreich ihre Wiederauferstehung zu feiern. Doch
während Punk von der Kulturindustrie geschluckt wurde,
blühte die Avantgarde international auf. Musikalische
Weiterentwicklungen und Verfeinerungen in New Wave,
Progressive Punk, Industrial Rock und Crossover bringen
Großartiges hervor. Mit dem technischen Fortschritt
rechnete die Pop-Avantgarde rigoros ab. Aber nicht nur
ihn stellte sie durch ihre Expermentierfreudigkeit in
Frage, sondern auch die zwischenmenschliche
Kommunikation, Sprache überhaupt in unserer Zeit.
Zerstörung und Frustration werden musikalisch
thematisiert, Sprache als Instrument benutzt, ebenso
wurde mit Dekomposition von Sprache experimentiert, wie
auch teilweise in der Neuen Musik eines György Ligeti,
Dieter Schnebel oder John Cage. Die Pop-Avantgarde aber
ist emanzipatorischer als die Neue Musik, die das
Experiment zum Kult erhoben hat und sich den technischen
Apparaten ausliefert. Musiker gehen neue Wege. So wirkten
die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN 1987 in Peter Zadeks
"Andi"-Aufführung am Hamburger Schauspielhaus
mit. Vor der Aufführung wurden Handzettel verteilt, die
das Publikum vor Hörschäden warnten. Die TOTEN HOSEN
bestritten 1988 in der Bonner Inszenierung von
"Uhrwerk Orange" den musikalischen Part und F.
M. Einheit, Drummer bei ABWÄRTS, dann
"Schlagwerker" bei den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN
trat in letzter Zeit primär als Komponist von Bühnen-
und Theatermusiken in Erscheinung.
Dennoch teilt die Pop-Avantgarde und so auch der
Punk-Rock das Schicksal jeder neuen Richtung: Einerseits
ist eine stärkere Verbreitung wünschenswert,
andererseits besteht dadurch die Gefahr, kommerziell
ausgeschlachtet zu werden und die ursprüngliche
innovative Kraft einzubüßen. Das für die Neunziger
proklamierte Punk-Revival blieb bisher aus bzw.
beschränkte sich auf Designer-Klamotten im fetzigen
Hundehalsband- und Sicherheitsnadel-Look.
Diskografie (Sampler in Auswahl):
"The Roxy London WC2 (Jan-Apr
1977) (1977), Harvest
"Jubilee" (1977), EG/Polydor
"Streets" (1977), Beggars Banquet
"Oi! The Album" (1980), EMI
"Punk And Disorderly" (1981), Abstract
"The Apocalypse Punk Tour 1981", Street Link
Records
"The Chiswick Story 1975-1982", Ace Records
"Burning Ambitions (A History Of Punk)" (1982),
Cherry Red
"Punk And Disorderly - Further Charges" (1982),
Anagram
"A Country Fit For Heroes" (1982), No Future
"The Kids Are United" (1983), Secret
"Punk Off", Eurostar
"Deutsch Punk-Kampflieder", Aggressive
Rockproduktion
"Punk's Not Dread", Revolver Records
Literatur:
Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von
Dada bis Punk - kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus
dem 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992. S. 22-156.
Lau, Thomas: Die heiligen Narren. Punk 1976-1986.
Berlin/New York. 1992.
(Pia Ambrosch)
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